Mein Feld ist die Welt
Die Geschichte der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG) – Teil 4
Zur Jahrhundertwende stand die HAPAG gut da – aber das prestigeträchtige Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung war beim Norddeutschen Lloyd, dem großen Konkurrenten aus Bremen. Alber Ballin höchstpersönlich hatte eine Passage mit der Kaiser Wilhelm der Große gemacht und sich dabei von den Vorzügen des Schnelldampfers überzeugen können, allerdings war Ballin ein gebranntes Kind. Denn die HAPAG hatte einige Jahre zuvor vier Schnelldampfer in Betrieb genommen, und diese Schiffe waren durch die Weiterentwicklungen im Schiffbau, die durch die extreme Konkurrenzsituation noch befeuert wurde, extrem schnell veraltet. Ganz abgesehen davon waren Schnelldampfer kaum wirtschaftlich zu betreiben, denn ihre Maschinenanlage benötigte viel Platz und der Kohleverbrauch war hoch [1]. Ballin wollte lieber auf Luxusdampfer setzen, die den Passagieren mehr Platz boten, weniger schnell veralteten und äußerst profitabel waren. Doch der Aufsichtsrat der HAPAG wies diese Pläne zurück, denn man erinnerte sich auch an die guten Erfahrungen, die die HAPAG anfangs mit ihren Schnelldampfern gemacht hatte. So erhielt die Stettiner Vulcan Werft den Auftrag, einen Schnelldampfer zu bauen, der die Kaiser Wilhelm der Große in jeder Hinsicht übertraf. – Am 4. Juli 1900 ging die Deutschland auf der Route Hamburg – Cherbourg – Plymouth – New York auf Jungfernfahrt. Die Deutschland war ein Vierschornsteiner von 16.703 BRT und holte sofort das Blaue Band mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 22,42 Knoten – dieser Rekord hatte Bestand bis September 1902, als die Kronprinz Wilhelm des Norddeutschen Lloyd das Blaue Band zurück nach Bremen holte. Auf der Rückfahrt der Jungfernreise holte die Deutschland auch den Geschwindigkeitsrekord für die Ostpassage mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit 22,84 Knoten. Dieser Rekord hielt bis Juni 1904, als die Kaiser Wilhelm II des Norddeutschen Lloyd die Deutschland übertraf. – Auf der Westpassage konnte die Deutschland im September 1903 mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 23,15 Knoten das Blaue Band zurück erobern. Im Oktober 1907 verlor sie es an die Lusitania, die eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 23,99 Knoten erreichte.
Ungetrübt war die Freude der HAPAG an der Deutschland jedoch nicht. Denn das Schiff neigte bei hohen Geschwindigkeiten, die typisch für einen Schnelldampfer sind, zu so starken Vibrationen, dass das Reisepublikum ihr den Spitznamen „The Cocktail Shaker“ verpasste. Das war noch harmlos im Vergleich zu dem, was der Deutschland am 22. April 1902 auf einer Überfahrt von New York nach Hamburg passierte. Das Schiff stand 400sm westlich von Bishop Rock, als es in schwerer See das Ruder verlor. Es gelang Kapitän Albers das Schiff mit reduzierter Geschwindigkeit und nur mit Hilfe der Schrauben steuernd sicher über Plymouth und Cherbourg nach Cuxhaven zu führen. Dort jedoch wurde festgestellt, dass nicht nur das Ruder fehlte, sondern auch der gusseiserne Hintersteven gebrochen war. Die Folge war ein längerer Werftaufenthalt. Der war allerdings auch nicht so einfach zu bewerkstelligen. Zum einen musste der neue Hintersteven bestellt und gefertigt werden, zum anderen stand in Hamburg kein geeignetes Dock zur Verfügung. Blohm & Voss erklärten sich bereit, ihr im Bau befindliches 17.000-t-Dock beschleunigt fertig zu stellen. Und während der Reparatur wollte man dann auch gleich schauen, dass man die Vibrationen reduzieren konnte, doch selbst die damaligen Experten auf dem Gebiet fanden keine Lösung. Das hatte Konsequenzen für die gesamte Flottenpolitik der HAPAG: Nun war auch der Aufsichtsrat bereit, Ballins Kurs mit Luxusdampfern anstelle von Schnelldampfern zu folgen. Damit folgte die HAPAG der White Star Line, die sich bereits 1899 von den Schnelldampfern und dem Kampf um das Blaue Band verabschiedet hatte. Interessanterweise waren sowohl die White Star Line als auch die HAPAG bevorzugte Partner der Werft Harland & Wolff in Belfast, und vor dem Bau der Deutschland hatte Ballin bereits Überlegungen angestellt, zwei Luxusdampfer anstelle eines Schnelldampfers bauen zu lassen – mindestens ein Schiff davon wäre wohl bei Harland & Wolff gebaut worden. Wäre die HAPAG Ballin schon vor Beauftragung der Deutschland gefolgt, wäre die HAPAG hier Trendsetter gewesen, nun war es die White Star Line.
Trendsetter
Trendsetter war die HAPAG aber in anderen Punkten. Die Arbeitsbedingungen auf den Dampfern waren besonders für die Heizer schlecht [2], und dementsprechend standen die Reeder im Fokus der Kritik besonders durch die SPD. Die Arbeitsbedingungen für die Heizer waren in der Tat unmenschlich, da sie in schlecht belüfteten Räumen schwerste körperliche Arbeit bei zum Teil extremen Temperaturen von deutlich mehr als 40° Celsius leisten mussten. Das führte natürlich zu Unfällen. Auch die Reeder hatten ein Interesse daran, Abhilfe zu schaffen. Den sah man durch die konsequente Nutzung technischen Fortschritts wie z. B. der Umstellung auf Ölfeuerung. Das würde dazu führen, dass die unmenschlichen Arbeitsbedingungen wegfielen und die Arbeitsplätze gleich mit. Die HAPAG führte Versuche mit der Silvia, die als erstes Schiff auf Ölfeuerung umgestellt wurde, und ihrer drei Schwesterschiffe durch. Technisch waren die Ergebnisse zufriedenstellend, wirtschaftlich jedoch verhinderten die hohen Ölpreise eine dauerhafte Umstellung auf Ölfeuerung. Nach zwei Jahren wurden die vier Schiffe wieder auf Kohlefeuerung umgestellt – der Zeitpunkt für mit Öl angetriebene Schiffe war noch nicht gekommen.
Ein anderer Trend war jedoch nachhaltiger. Im Dezember 1901 wurden auf der Elbinsel Veddel neue Auswandererhallen der HAPAG eröffnet [3]. Die alten Auswandererhallen von 1892 standen in einem Bereich, der von der Stadt Hamburg für eine Hafenerweiterung benötigt wurde, und so wurde ein Areal auf der Veddel angeboten. Die HAPAG nutzte die Gelegenheit für ein völlig neues Konzept. So erhielten die Auswandererhallen einen eigenen Bahnanschluss, wodurch die Auswanderer direkt zu den Auswandererhallen transportiert werden konnten. Da die Veddel damals noch außerhalb Hamburgs lag, mussten die Auswanderer nicht mehr durch die Stadt. Nach der Cholera-Epidemie von 1892, die möglicherweise von Emigranten aus Osteuropa nach Hamburg eingeschleppt worden war [1], war das ein nicht zu unterschätzendes Argument. Die Anlage selbst bestand auf Schlaf- und Wohnpavillions mit Wasch- und Sanitäreinrichtungen in den Schlafpavillions, dem Hotel Nord und dem Hotel Süd, die über bequemere Unterkünfte verfügten als die Schlafpavillions, einer großen Speisehalle, einer Synagoge, einer christlichen Kirche, einem Musikpavillion, einem Lazarett, einem Gepäckschuppen und einem Verwaltungsgebäude. Hier konnten die Auswanderer, die überwiegend aus Osteuropa kamen, die Wartezeit verbringen, ehe es für sie auf ein Schiff nach Amerika ging.
1903 zog die HAPAG in ein neues Verwaltungsgebäude am Alsterdamm, dem heutigen Ballindamm [8]. Im gleichen Jahr wurde der ausschließlich für die HAPAG bestimmte Kaiser-Wilhelm-Hafen in Gegenwart des Kaisers eröffnet – man war zu einer echten Institution in Hamburg und dem Deutschen Reich geworden.
Politik der Risikoverteilung
Albert Ballin arbeitete daran, die HAPAG vom nordatlantischen Auswandererdienst unabhängiger zu machen und somit das grundsätzliche Geschäftsrisiko zu minimieren. Er setzte zum einen auf der traditionellen Transatlantikroute auf eine Ausweitung des Frachtgeschäfts. Zum anderen schaute er sich nach neuen Linien um. Sehr vielversprechend war der Südamerikadienst, in dem die Hamburg Süd direkt vor Ort gute Geschäfte und hohe Gewinne machte. Erst zögerte Ballin, direkt in Hamburg anzugreifen und versuchte sein Glück vom Mittelmeer aus, aber das Geschäft kam nicht so recht in Fahrt. Im November 1900 dann bot sich Ballin die Chance, direkt in das Südamerikageschäft ab Hamburg einzusteigen: Er kaufte die Reederei de Freitas, die ihre Geschäftstätigkeit aus finanziellen Gründen einstellen musste, zu einem überhöhten Kaufpreis, so unbedingt wollte Ballin dieses Geschäft.
Doch Ballin dachte nicht nur in Richtung Nord-, Mittel- und Südamerika, sondern er richtete seinen Blick auch nach Ostasien, einer anderen Boomregion jener Jahre. Beim Einstieg half ihm die Tatsache, dass die Rickmers Rhederei in dem Fahrtgebiet durch den Norddeutschen Lloyd zum Aufgeben gezwungen worden war. Rickmers‘ Agenten jedoch suchten nach Transportmöglichkeiten für die bereits gebuchte Ladung, und am Ende wandten sich die Agenten an die HAPAG und fragten, ob diese nicht einspringen wollte. Natürlich wollte Ballin, denn die HAPAG hatte im Geschäftsbericht von 1897 erklärt, dass man „der zielbewussten Politik unseres Kaisers zu folgen“ beabsichtigte [4].
Aber Ballin wollte mehr als nur eine Frachtlinie nach Ostasien. Man verhandelte mit dem Norddeutschen Lloyd über einen Einstieg in den Postdampferdienst, der bisher vom Norddeutschen Lloyd alleine betrieben wurde. Nach Einigung der beiden Reedereien erließ die Reichsregierung das entsprechende Gesetz und die HAPAG bestellte sofort zwei Reichspostdampfer für Ostasien. Wirksam wurde das Gesetz zum 1. Oktober 1899, und für eine Dauer von 15 Jahren würden die beiden Konkurrenten HAPAG und Norddeutscher Lloyd den Postdampferdienst nach Ostasien gemeinsam betreiben, wobei das Management beim Norddeutschen Lloyd lag und die HAPAG nur Schiffe stellte. Dennoch schaute Ballin sich in Ostasien persönlich um, und es gelang ihm, der HAPAG den Betrieb von vier Zubringerdiensten zu sichern, darunter einer Postdampferlinie, doch dabei blieb es dann auch, zu groß war die Dominanz des Norddeutschen Lloyd in Ostasien.
Doch schon 1903 beendete die HAPAG die Zusammenarbeit mit dem Norddeutschen Lloyd im Ostasiendienst wieder. Ein Auslöser war sicherlich das Urteil, das Ballin über die eingesetzten Schiffe bereits während seiner Reise 1901 fällte: Sie waren für den Dienst nicht optimal! Man hatte keine Rücksicht auf die Bedingungen in den Tropen genommen. Das war sehr ärgerlich für Ballin, der üblicherweise für den jeweiligen Dienst maßgeschneiderte Schiffe in Dienst stellte. Zudem waren die Schiffe ohne Änderungen im Reichspostdampferdienst nicht wirtschaftlich zu betreiben. Also wartete Ballin auf den geeigneten Moment für den überraschenden Ausstieg der HAPAG aus dem Reichspostdampferdienst nach Ostasien, und der kam im Oktober 1903. Der Norddeutsche Lloyd und die HAPAG beschlossen eine grundsätzliche Neuorganisation des Ostasiendienstes. Ab 1904 würde der Norddeutsche Lloyd den Postdampferdienst nach Ostasien wieder alleine übernehmen und erhielt dafür einen Dampfer der HAPAG. Die HAPAG übernahm im Gegenzug den Frachtdienst auf eigene Rechnung und erhielt vom Norddeutschen Lloyd fünf Frachter. Außerdem durfte die HAPAG auf ihren Frachtern nach Ostasien bis zu 40 Kajütpassagiere befördern.
Die HAPAG und der Norddeutsche Lloyd gerieten einige Jahre später noch mal wieder aneinander, als die Bremer versuchten, in die Hamburger Domäne der Afrikafahrt einzubrechen. Bisher hatte die Woermann-Reederei im Afrikadienst das Monopol, das zuerst eine kleine Bremer Reederei aufzubrechen drohte. Woermann konnte den Angriff abwehren, doch dann stieg der Norddeutsche Lloyd ein. Das wiederum führte dazu, dass Albert Ballin sich ebenfalls einmischte und die HAPAG eine Partnerschaft mit Woermann einging. Am Ende blieb der Afrikadienst in Hamburger Hand, aber Woermann war sein Monopol los. Allerdings war Ballin ihm gegenüber fair geblieben: Woermann behielt das Management des Afrikadienstes, konnte aber auf für den Afrikadienst vorgesehene Schiffe der HAPAG zurückgreifen. Die HAPAG forderte lediglich einen 25%-Anteil am Geschäft. Weitere Reedereien schlossen sich der neuen Gemeinschaft Woermann/HAPAG an, und der Kaiser gratulierte der HAPAG zu dem Eintritt in den Afrikadienst und gab der Hoffnung Ausdruck, dass dieses „bedeutungsvolle nationale Unternehmen den deutschen Schutzgebieten zum Segen“ gereichen möge [5].
Jenseits von Afrika
Im Mittelmeerdienst nach Nordamerika hatten die HAPAG und der Norddeutsche Lloyd im Winter unter dem Namen „Deutscher Mittelmeer-Dienst“ seit Dezember 1892 eine Fahrplangemeinschaft gebildet. Diese Fahrplangemeinschaft wurde im Herbst 1901 aufgelöst. Die HAPAG fuhr nun auch ganzjährige von Genua aus nach New York. Die eingesetzten Schiffe waren sehr heterogen – und es gab durchaus werbewirksame Highlights wie zum Beispiel der Einsatz der Deutschland im Januar 1904 auf der Route New York – Genua – New York. Unter den Fahrgästen war der ehemalige Bürgermeister von New York, Seth Low, der an Bord zum Vorsitzenden des Passagierkomitees ernannt worden war und am Ende der Reise begeisterte Toasts auf Kaiser Wilhelm II, Präsident Roosevelt und Kapitän Kaempf ausbrachte.
Ende 1903 hatte die HAPAG mit der White Star Line ein Abkommen abgeschlossen. Die HAPAG übernahm die Vertretung der White Star Line in Italien. Zudem wollten beide Reedereien jeweils vier Schiffe im Mittelmeerdienst nach Nordamerika einsetzen. Die HAPAG hatte den Zielhafen New York, die White Star Line lief Boston an. Doch das Geschäft wandelte sich mit Erstarken der italienischen und österreichisch-ungarischen Reedereien. Da war zwar die einmalige Rundreise der Kaiserin Auguste Victoria, dem damaligen Flaggschiff der HAPAG, im Februar 1912 eine werbewirksame Geschichte, da die Kaiserin Auguste Victoria das bis dahin größte Schiff war, das jemals im Mittelmeer gefahren ist, doch es brachte nicht die dauerhafte Trendumkehr.
Der Cunard Line war es zudem gelungen, die wichtige ungarische Konzession für den Auswandererdienst ab dem Mittelmeer zu erhalten. Nun zogen HAPAG und Norddeutscher Lloyd wieder an einem Strang und halfen dabei, eine starke österreichische Reederei, die Unione Austriaca, aufzubauen und überzeugten die österreichische Regierung, dieser Reederei die österreichische Konzession für die Auswandererbeförderung zu übertragen. Die beiden deutschen Reedereien hatten hohe Anteile an der Unione Austriaca und erhielten darüber ihre Gewinnbeteiligung. Zudem unterstützte die HAPAG die Unione Austriaca mit Schiffen bei einem Konkurrenzkampf mit der Canadian Pacific Railway Company [6].
Auch im Ostasiendienst positionierte sich die HAPAG neu. Zweifellos flossen Ballins Erfahrungen und Beobachtungen von seiner Ostasienreise 1901 in die Neubauten ein, mit denen er das nach dem Ausstieg aus dem Reichspostdampferdienst an die HAPAG gefallene Frachtgeschäft revolutionieren wollte. Denn im Frachtgeschäft durch die HAPAG 40 Kajütpassagiere mitnehmen, und denen bot Ballin auf seinen Neubauten der Rhenania-Klasse 40 komfortable Passagierplätze in 20 geräumigen Kajüten. Außerdem gab es ein luftiges Zwischendeck für 100 Fahrgäste. Diese Frachtdampfer waren zwar langsamer als die Postdampfer und benötigten auch mehr Zeiten in den Häfen zum Be- und Entladen, aber dafür waren sie billiger als die Postdampfer. In der 1. Klasse verlangte der Norddeutsche Lloyd auf einem seiner Postdampfer 2000 Mark für eine 52tägige Überfahrt nach Kobe. In der Kajütklasse der HAPAG zahlte man für eine 70tägige Fahrt nach Kobe 900 Mark. Im Zwischendeck lagen die Preise bei 550 Mark (Norddeutscher Lloyd) zu 370 Mark (HAPAG). Allerdings ging es Ballin nicht darum, den Norddeutschen Lloyd im Ostasiengeschäft anzugreifen – Ballin zielte, wie sich einige Zeit später herausstellte, auf das Nordatlantikgeschäft, wo er höhere Quoten für die HAPAG abgreifen wollte.
Doch ehe dieses Ziel offenbar wurde, brach der russisch-japanische Krieg aus, und die HAPAG erwies sich dabei als größter Verbündeter des Zarenreichs. Die HAPAG verkaufte zahlreiche Schiffe an Russland, unter anderem die drei Schnelldampfer Fürst Bismarck, Auguste Victoria und Columbia, aber auch Schiffe der P- und der A-Klasse. Ein logistisches Meisterstück aber lieferte die HAPAG, als sie – ohne Information an die deutsche Reichsregierung – mit Russland einen Vertrag über die Kohleversorgung der zaristischen Flotte, die von der Ostsee zu den russischen Pazifikhäfen verlegt werden sollte, schloss. Dabei sicherte die HAPAG Russland zu, 338.200t vorwiegend walisischer Kohle an verschiedenen Übergabepunkten für die russische Flotte bereitzuhalten.
Brisant wurde dieses Geschäft dadurch, dass England mit Japan sympathisierte. So ging die britische Presse sogar so weit, der deutschen Regierung wegen dem Verkauf der Schnelldampfer an Russland einen Neutralitätsbruch vorzuwerfen. Die HAPAG konnten diesen Vorwurf schnell entkräften, denn die deutschen Schnelldampfer waren alle ohne Subventionen gebaut worden – was die Briten von ihren Schnelldampfern nicht behaupten konnten. Dennoch lag plötzlich die Möglichkeit eines Krieges zwischen England und Russland nicht mehr fern. Der deutsche Kaiser fühlte beim russischen Zaren vor, ob sich das Deutsche Reich mit Russland verbünden könne, doch der Zar antwortete, dass er dafür erst mit Frankreich Rücksprache halten müsse.
Die deutsche Reichsregierung nahm offensichtlich Kontakt mit Ballin auf, ob das Kohlegeschäft zwischen der HAPAG und Russland noch gestoppt werden könne. Ballin erklärte, dass nur ein Befehl der Reichsregierung der HAPAG einen Grund geben würde, vom Vertrag zurückzukehren – allerdings wies Ballin auch darauf hin, dass sich die Stimmung in England dadurch sicher nicht drehen würde, dafür allerdings Russland als Nachbar im Osten zu Recht verärgert wäre. Dementsprechend gab es keinen politischen Eingriff der Reichsregierung.
In den Büchern der HAPAG taucht dieses Geschäft nur verklausuliert auf. Doch es war wohl ein sehr einträgliches Geschäft für die HAPAG.
Kreuzfahrten
Die Kreuzfahrten waren eine Domäne der HAPAG. Dort waren die Hamburger führend [1]. Doch mit der Neuordnung des Ostasiengeschäfts forderte der Norddeutsche Lloyd einen Anteil. Man setzte auf die Verhandlungslösung mit der HAPAG, da man – vermutlich zu Recht – davon ausging, dass Ballin auf einen nicht abgesprochenen Einstieg des Norddeutschen Lloyd in diese HAPAG-Domäne mit Gegenangriffen in den Domänen des Norddeutschen Lloyd antworten würde. Doch der Norddeutsche Lloyd zog sich schnell wieder aus dem Geschäft zurück, offenbar hatten die Bremer nicht das glückliche Händchen der Hamburger, bei denen die Kreuzfahrt immer noch florierte und die sich sogar den Luxus eigener Kreuzfahrtdampfer leisteten: Die Meteor, die Prinzessin Victoria Luise und ab 1906 die Oceana. Doch im Dezember 1906 kam es zu einem ärgerlichen Unglück. Die Prinzessin Victoria Luise befand sich auf einer Karibik-Fahrt ab New York. Der Kapitän wollte unbedingt noch am Abend des 16. Dezember 1906 in Kingston (Jamaica) einlaufen und als kein Lotse kam, versuchte er es auf eigene Faust, obwohl sein 1. Offizier ihm dieses Vorhaben mit Verweis auf die Reedereianweisungen ausreden wollte. Doch der Kapitän blieb bei seinem Vorhaben, das am Ende damit endete, dass die Prinzessin Victoria Luise strandete. Passagiere, Ladung und Besatzung konnten abgeborgen werden – es gab nur einen Toten: Den Kapitän, der sich kurz nach dem auf Grund laufen in seiner Kabine erschoss.
1908 gab es erneute Gespräche zwischen der HAPAG und dem Norddeutschen Lloyd, bei denen die Differenzen zwischen den Konkurrenten beigelegt werden sollen. Ein Ergebnis war der Wiedereinstieg des Norddeutschen Lloyd in das Kreuzfahrtgeschäft, wobei sich HAPAG und Norddeutscher Lloyd über die anstehenden Fahrten einigen wollten.
1910 wartete die HAPAG mit einem neuen Superlativ auf: Man ließ die Deutschland zu einem Kreuzfahrtschiff umbauen, strich sie weiß an und benannte sie in Victoria Luise um. Statt 1000 Passagiere in drei Klassen konnten nun 475 Passagiere auf Vergnügungsfahrt gehen.
Die führende Stellung der HAPAG bei den Kreuzfahrten konnte man auch an den Prospekten ablesen. Im Mai 1914 erschien die Vorschau auf die Weltreisen 1915. Der dann neu eröffnete Panama-Kanal war direkt mit ins Programm aufgenommen worden, eröffnete er doch die Chance zu echten Weltreisen – bisher hatten die Fahrten entweder in New York oder in San Francisco enden müssen. Zwischen 3.825 und 17.000 Mark lagen die Preise für die Weltreisen.
Auf dem Nordatlantik
Die Nordatlantikroute zwischen Hamburg und New York war trotz allem die prestigeträchtigste Route – auf dieser Verbindung lag der Fokus der Öffentlichkeit. Und dort dominierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die beiden großen deutschen Reedereien. Der Norddeutsche Lloyd war führend in der Passagierbeförderung, die HAPAG hatte die ausgewogenste und profitabelste Flotte und konnte zudem mit dem prestigeträchtigen Blauen Band werben. Die einst führende Cunard Line verharrte im Nichtstun und fiel dadurch weiter zurück, die White Star Line meldete ebenfalls keine Führungsansprüche an. Allerdings hatten die USA durch den spanisch-amerikanischen Krieg erkannt, dass ihre Handelsflotte im Krisenfall zu klein war. Außerdem spielten US-amerikanische Reedereien auf dem Nordatlantik, dem Lebensnerv zwischen alter und neuer Welt, keine Rolle mehr. Und so lag es nahe, die Situation zu Gunsten der USA zu verändern. Neubauten hätten zu einem Preiskrieg geführt, Subventionen hätten sich die USA nicht leisten können – aber man konnte europäische Reedereien mit amerikanischem Kapital aufkaufen. Und genau das tat der Bankier J. Pierpont Morgan. Als Ballin im Sommer 1901 in New York war, hörte er Gerüchte, dass Morgan nach der Leyland Line auch noch die White Star Line und möglicherweise sogar Aktien vom Norddeutschen Lloyd und der HAPAG kaufen wollte. Ballin entschied sich, sofort zu handeln, indem er die deutsche Regierung und den Kaiser informierte. Es kam zu einem Krisengipfel in Berlin, an dem unter anderem der Kaiser, Ballin von der HAPAG und Wiegand vom Norddeutschen Lloyd teilnahmen. Wiegand überraschte alle: Er sah die Gefahr nicht, die von Morgans Reedereientrust ausging. Er weigerte sich beharrlich, an Ballins Verhandlungen teilzunehmen oder auch nur belastbare Gegenargumente zu bringen. Der Kaiser wurde zornig und sagte zu Wiegand: „Wissen Sie, was Sie sind, Sie sind ein eigensinniger Friese!“ [7]
Auf jeden Fall führte Morgans Gründung der International Mercantile Marine Company (IMM) und der Übernahme der White Star Line, die von W. J. Pirrie, Vorsitzender der Werft Harland & Wolff, eingefädelt wurde, zu einer neuen Situation auf dem Nordatlantik, die zu einer bedrohlichen Schieflage im bisher so wohl austarierten Geschäft hätte führen können. Denn die IMM war wirklich ein Gigant auf dem Nordatlantik: Sieben große Transatlantikreedereien, darunter die White Star Line, mit einer Flotte von 133 Dampfern mit 922.110 BRT. 14 Schiffe fuhren unter US-Flagge, 6 unter belgischer Flagge und 113 unter britischer Flagge. Ballin gelang es, einen Vertrag mit den Amerikanern zu schließen, der deutsche Interessen schützte und gleichzeitig die Amerikaner zufrieden stellte. So gehörte zu den Vereinbarungen, dass von einem gedachten Aktienkapital von 20 Mio. Mark ausgehend die Amerikaner 25% der Summe erhalten sollten, die den deutschen Aktionären über 6% hinaus gezahlt wurden. In schlechteren Jahren hatten die Amerikaner den deutschen Aktionären 25% der Summe zu zahlen, die den deutschen Aktionären an einer Dividende in Höhe von 6% fehlte. Damit war sichergestellt, dass die Amerikaner ein Interesse an einer guten Entwicklung der deutschen Reedereien hatten, da sie nur dann Geld bekommen würden – während sie bei schlechter Entwicklung Zahlungen nach Deutschland leisten mussten.
Die Gründung der IMM führte allerdings auch dazu, dass die britische Regierung Subventionen an die Cunard Line zahlte, die damit in die Lage versetzt wurde, zwei erstklassige Schnelldampfer bauen zu lassen. Ballin errechnete, dass die Subventionen so hoch waren und so über die Jahre gestreckt wurden, dass die Cunard Line diese beiden Dampfer quasi geschenkt bekam. Das war ein massiver Markteingriff der britischen Regierung, denn bisher hatten die Reedereien ihre Dampfer mit eigenem Geld auf eigenes Risiko finanziert. Und diese Reedereien mussten nun nicht nur auf die IMM reagieren, sondern auch noch auf die vom britischen Staat subventionierte Cunard Line.
Die HAPAG war nach den Erfahrungen mit der Deutschland von den Schnelldampfern kuriert. Nun war der Aufsichtsrat bereit, dem Weg Ballins mit Komfort und sogar Luxus anstelle von Höchstgeschwindigkeiten zu folgen. Mittlerweile hatte auch die White Star Line ihren Strategieschwenk erfolgreich umgesetzt. Die Konkurrenz konnte sehen, dass sich die Celtic und die Cedric auf dem Nordatlantik bewährten. Die Kalkulation, dass die Reisenden für mehr Komfort auch eine etwas längere Passagedauer in Kauf nahmen, ging definitiv auf. Denn die Schnelldampfer neigten nicht nur zu Vibrationen, die für die Passagiere äußerst unangenehm waren, sondern die Schnelldampfer kamen auch schnell ins schaukeln, rollen und schlingern. Wer da nicht seefest war, hatte in Zeiten vor Erfindung von wirksamen Medikamenten gegen Seekrankheit eine wirklich harte Zeit an Bord von Schnelldampfern. Die langsameren Schiffe, die mit dem Fokus auf Komfort gebaut worden waren, lagen deutlich stabiler und damit ruhiger im Wassser.
Doch Ballin wollte mehr als die White Star Line – mit der Moltke und der Blücher, die 1902 als Vertreter der Komfortstrategie auf dem Nordatlantik in Fahrt gekommen waren, hatte die HAPAG zwei Schiffe von 12.300 BRT, die zwar beim Publikum beliebt waren, aber von der Größe her nicht mit der Celtic-Klasse der White Star Line und den Schnelldampfern des Norddeutschen Lloyd mithalten konnten. 1904 erhielt Harland & Wolff den Auftrag, ein Schiff von 22.500 BRT für die HAPAG zu bauen. Weitere Anforderungen waren eine Dienstgeschwindigkeit von 17 Knoten und besonderer Komfort für die Fahrgäste. Der Name des Schiffes: Amerika. Im gleichen Jahr gab die HAPAG dann ein Schwesterschiff beim Stettiner Vulcan in Auftrag, die Kaiserin Auguste Victoria, die mit 24.581 BRT bei Indienststellung das größte Schiff der Welt sein würde. Und beide Schiffe boten wirklich neue Maßstäbe in Sachen Luxus und Komfort. So gab es für die 1. Klasse Passagiere erstmals ein a la carte Restaurant an Bord, das Ritz-Carlton, da Albert Ballin sich im Vorwege mit den Chefs der beiden berühmtesten Restaurants der Welt, dem Carlton in London und dem Ritz in Paris, zusammengesetzt hatte, um ein echtes Luxusrestaurant auf See anzubieten. Damit konnte man speisen, wann man wollte und das a la carte. Man war nicht an die Essenszeiten im Speisesaal und das dortige Angebot gebunden. Ebenfalls erstmals auf einem Schiff gab es Personenaufzüge in der 1. Klasse. Und auch in der 3. Klasse wurde eine Neuerung eingeführt: Wer 180 statt 160 Mark bezahlte, bekam ein Bett in einer Kabine für 2 bis 6 Personen, in der es sogar fließendes Wasser gab! Kinder fuhren zum halben Preis, wodurch das Angebot besonders für Familien attraktiv wurde. Und in der 3. Klasse wurden die Mahlzeiten an einem gedeckten Tisch serviert – eine weitere Neuerung zum bisherigen Zwischendeck.
Eine weitere Neuerung auf der Amerika und Kaiserin Auguste Victoria war die tägliche Bordzeitung, das Atlantische Tageblatt, die per Funk erhaltene Nachrichten aus aller Welt ebenso enthielt wie Nachrichten direkt von Bord, die im Lokalteil erschienen.
Die von Ballin neu erfundene 3. Klasse fand auch auf der President Lincoln und der President Grant Anwendung und traf auf eine große Nachfrage – diese beiden Schiffe waren mit 20.600 t Tragfähigkeit die damals größten Frachter der Welt und mit Einrichtungen für 3800 Passagiere waren sie auch die größte Passagierkapazität aller Dampfer der Welt. Die späteren Neubauten Cleveland und Cincinnati (beide über 16.000 BRT groß und knapp 16 Knoten schnell) hatten ebenfalls eine große 3. Klasse zusätzlich zum Zwischendeck an Bord. Die Nachfrage nach Plätzen in der 3. Klasse anstelle vom Zwischendeck zeigte, dass immer breitere Bevölkerungskreise einen mindestens bescheidenen Wohlstand erreicht hatten und sich sogar einen bescheidenen Komfort leisten konnten.
Neben dem Kampf um die höchste Geschwindigkeit war damit zweifellos nun auch ein Kampf nach Größe getreten. Die Kaiserin Auguste Victoria musste ihren Größenrekord im September 1907 an die Lusitania abgeben, die mit 31.550 BRT das erste Schiff über 30.000 BRT war. Ihre Schwester Mauretania kam sogar auf 31.938 BRT. Beide Cunard-Schiffe holten auch das Blaue Band, doch nun fand sich niemand mehr, der in Sachen Geschwindigkeit mit ihnen konkurrieren wollte. Doch in Sachen Größe, da ging noch was. Die White Star Line legte die Messlatte auf über 40.000 BRT – und die HAPAG legte noch einen oben drauf.
[1] Siehe „Mein Feld ist die Welt“ (Teil 3) im Navigator Nr. 75 (September 2016)
[2] Detaillierte Beschreibungen der Arbeitsbedingungen siehe Navigator Nr. 4, 11. Jahrgang (Februar 2008), „Arbeiten in den Kesselräumen“ sowie „Fireman mach Dampf! – Die „Schwarzen Gesellen“ und ihr Arbeitsplatz“ Teile 1 – 4, Navigator Nr. 1 – 4, 13. Jahrgang, Mai 2009 – Februar 2010
[3] Die Auswandererhallen von 1901 sind heute als Museum „BallinStadt“ öffentlich zugänglich. Die Besichtigung der BallinStadt war ein Programmpunkt der JHV 2016 des Deutschen Titanic-Vereins in Hamburg.
[4] Kludas (ohne Jahr), Band II, S. 198
[5] Kludas (ohne Jahr), Band III, S. 151
[6] Die Canadian Pacific Railway Company betrieb neben der Eisenbahn auch eine Schiffsflotte, die auf dem Atlantik und dem Pazifik zum Einsatz kam.
[7] Kludas (ohne Jahr), Band III, S. 60
[8] Dieses Verwaltungsgebäude wurde im Rahmen der JHV 2016 des Deutschen Titanic-Vereins am 27. Mai besichtigt – es war zudem der 169. Gründungstag der HAPAG.
Quellen:
Kludas, Arnold (ohne Jahr), Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt 1850 – 1990. Das große Standardwerk erstmals in einem Band, ohne Ort, ohne Verlag.