Wer hat an der Uhr gedreht?
Uhrzeit und Zeitumstellung auf der Titanic
Von Susanne Störmer
Die Uhrzeit auf der Titanic hat bereits diverse Beiträge im Navigator zur Folge gehabt. Denn die Uhrzeit auf der Titanic war eben die Uhrzeit auf der Titanic, sagt jedoch nichts darüber aus, wie spät es zur gleichen Zeit an einem anderen Ort an Land, z. B. New York oder London oder Berlin oder Wien war. Um das herauszufinden, muss man wissen, auf welcher Ortszeit die Schiffszeit der Titanic am entsprechenden Tag, z. B. am 14. April 1912, basierte.
Markus Philipp plante einen weiteren Beitrag zu diesem Thema für den Navigator Nr. 82 (September 2018) im Rahmen seiner Serie „Das kleine Einmaleins der Navigation“. Leider ist es nicht mehr dazu gekommen, da Markus vor Übermittlung des fertigen Beitrags an die Redaktion verstorben ist. Allerdings hat Markus das Thema „Uhrzeit auf der Titanic am 14. April 1912“ mit mir Ostern 2018 und die Tage danach per E-Mail diskutiert. Sein größtes Problem war: Woher kam die vom 2. Offizier Lightoller vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss genannte Zeitdifferenz von einer Stunde 33 Minuten zwischen Schiffszeit Titanic und Ortszeit New York (EST)? Sie störte seine Berechnungen, mit denen er die für die Uhrzeit der Titanic gültige Ortszeit nachgeprüft hatte. Markus benötigte eine so überzeugende wie durch Nachprüfbarkeit abgesicherte Erklärung, mit der er die eine Stunde 33 Minuten in das Reich der Fabel verweisen konnte, denn die eine Stunde 33 Minuten Zeitunterschied schienen direkt von den Offizieren der Titanic zu kommen und waren damit eine harte Nuss, die es zu knacken galt. – Erstmals werden die eine Stunde 33 Minuten in einem Funktelegramm der Carpathia an die Olympic am 15. April 1912 genannt, also sehr zeitnah zum Untergang. Aber, so Markus, sie passen nicht – weder zur Schiffszeit Titanic am 14. April 1912 noch zur Schiffszeit der Titanic am 15. April 1912 noch zur Schiffszeit Carpathia. Wie also kann man sie widerlegen? Die E-Mails flogen hin und her, so dass Markus schrieb: „Das geht ja wie das Brötchen backen [sic!]“ [1] – und wir wollten dieses Thema während des Jahrestreffens in Dresden weiter diskutieren, wobei wir uns über weitere Diskussionsteilnehmer sehr gefreut hätten. Leider verstarb Markus elf Tage vor dem Jahrestreffen.
Diese Diskussion war nur ein kleiner Aspekt des komplexen Themas „Uhrzeit auf der Titanic“. Markus selbst hat das Thema mehrfach aufgegriffen, sich dabei manchmal revidieren müssen, wenn neue Erkenntnisse oder Quellen eine Neubewertung erforderlich machten, und auch international gab es Bestrebungen, eines der letzten Rätsel der Geschichte der Titanic endgültig nachvollziehbar zu lösen.
Mein Buch „Dampfer Titanic: Eisberg voraus“ aus dem Jahr 2007 beinhaltet ein Kapitel zur Uhrzeit auf der Titanic, das Markus zu weiteren Recherchen herausgefordert hat, die in Beiträgen für den Navigator mündeten („Das Dilemma mit der Uhrzeit II – IV“, Navigator Nr. 4, 12. Jahrgang, Februar 2009, Nr. 1, 13. Jahrgang, Mai 2009 und Nr. 3, 13. Jahrgang, November 2009). In der Überarbeitung für die aktualisierte und erweiterte Neuauflage des Buches habe ich auch dieses Kapitel wieder angefasst und die neuesten Erkenntnisse der internationalen Titanic-Forschung eingearbeitet. Ich stelle es den Mitgliedern des DTV an dieser Stelle zur Verfügung. Denn mittlerweile gilt die Zeitdifferenz zwischen Schiffszeit Titanic und New York-Zeit am 14. April 1912 als nachweisbar gesichert. Auch Markus kam zu diesem Ergebnis. Und es gibt eine Erklärung für die Zeitdifferenz von einer Stunde 33 Minuten, die Markus Philipp und mich zu Ostern 2018 so sehr beschäftigt hat.
Wie spät war es?
Nicht überall auf der Welt ist es zu jeder Zeit die gleiche Uhrzeit. Generell gilt, dass dann 12 Uhr mittags und damit Mittag ist, wenn die Sonne an dem Ort genau im Zenit, also genau über dem Ort, steht. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Wenn die Sonne an dem Ort den höchsten Punkt im Verlauf des Tages erreicht hat, ist es 12 Uhr mittags. Da sich die Erde um die Sonne dreht, steht die Sonne zwangsläufig nicht überall zur gleichen Zeit im Zenit. Und so hatte jeder Ort viele Jahrhunderte lang seine individuelle Mittagszeit. In einem direkten Nord-Süd-Verlauf war es übrigens immer zur gleichen Zeit 12 Uhr mittags; der Längengrad ist hier der maßgebliche Faktor.
Die Erdoberfläche ist von der Wissenschaft in eine Art Gitternetz untergliedert worden. Dadurch erhält jeder Ort auf dieser Welt eindeutige Koordinaten bestehend aus Breitengrad und Längengrad. So kann man die genaue Lage des Ortes auf der Welt erkennen und z. B. in Karten einzeichnen. Die Breitengrade sind nach Nord und Süd unterteilt. Der nullte Breitengrad ist am Äquator und von dort geht es entweder 90° nach Norden oder 90° nach Süden. Die Längengrade sind nach Ost und West unterteilt. Der nullte Längengrad, Nullmeridian genannt, verläuft durch Greenwich (London, England). Von dem Nullmeridian aus geht es 180° nach Westen und 180° nach Osten. In Richtung Osten wird die Uhr vorgestellt, in Richtung Westen zurückgestellt – entsprechend dem Verlauf des Sonnenstandes von Osten (Sonnenaufgang) nach Westen (Sonnenuntergang).
Dann kam im 19. Jahrhundert die Eisenbahn, ein vergleichsweise schnelles Massentransportmittel, und mit ihr ein Fahrplan, aus dem man entnehmen kann, wann ein Zug von welchem Ort abfahren soll. Da keine Eisenbahnstrecke auf einem einzigen Meridian von Nord nach Süd (oder umgekehrt) verläuft, gestaltete sich die Fahrplangestaltung schwierig, da man neben der benötigten Zeit zwischen zwei Bahnhöfen auch die Zeitdifferenz zwischen diesen beiden Orten mit betrachten musste. Die Eisenbahngesellschaften behalfen sich damit, dass sie eine Ortszeit als „Masterzeit“ verwendeten und wenn man sich in einem Ort mit anderer Uhrzeit befand, musste man die Zeit aus dem Fahrplan in Ortszeit umrechnen. Das war natürlich kompliziert, und mit zunehmender Mobilität der Gesellschaft auch unpraktisch. Deswegen wurden im 19. Jahrhundert Zeitzonen eingeführt. Große Länder wie die Vereinigten Staaten von Amerika oder Russland umfassen mehrere Zeitzonen. Andere Länder, wie z. B. Großbritannien, Deutschland, Österreich oder die Schweiz, haben eine Zeitzone, die für das ganze Land Gültigkeit hat [2].
Was bedeuten diese Vorbetrachtungen für die Jungfernfahrt der Titanic?
Die Titanic fuhr von Southampton über Cherbourg und Queenstown nach New York. In Cherbourg galt die französische Zeit, die heute der mitteleuropäischen Zeit (MEZ) entspricht. In Queenstown galt damals die irische Zeit, die 25 Minuten hinter der britischen Zeit, auch Greenwich Mean Time (GMT) genannt, lag. New York liegt in der Zeitzone, die Eastern Standard Time (EST) genannt wird. Zwischen GMT und EST liegen fünf Stunden. Das bedeutet: Ist es 12 Uhr mittags in Greenwich und damit in ganz England, Wales und Schottland, ist es 7 Uhr morgens in New York und in der übrigen Zeitzone mit EST.
Damit bei der Ankunft der Titanic in New York die Schiffszeit identisch mit der EST ist, wurde auf dem Weg nach Westen die Schiffszeit der Titanic regelmäßig angepasst. Doch wie erfolgte diese Zeitanpassung?
Aus der heutigen Logik heraus bietet es sich an, die Zeitdifferenz von fünf Stunden auf die Reisezeit zu verteilen, die bei der Titanic laut Fahrplan sechs Tage ab Queenstown betragen hätte, d. h. am sechsten Reisetag ab Queenstown hätte sie fahrplanmäßig New York erreichen sollen. Noch sinnvoller erscheint es aus heutiger Sicht, wenn am sechsten Tag keine Zeitumstellung mehr stattgefunden hätte. Dann hätte man ganz zufällig fünf Stunden auf fünf Tage verteilen müssen – also jeden Tag eine Stunde oder eben 60 Minuten. In diesem Fall hätte die Zeitdifferenz Schiffszeit Titanic am 14. April zwei Stunden zur EST und drei Stunden zur GMT betragen und am 15. April entsprechend eine Stunde zur EST und vier Stunden zur GMT. – Die stundenweise Anpassung ist auf heutigen Schiffen die übliche Vorgehensweise.
Leider passt dieser Ansatz nicht zu den zeitgenössischen Quellen. So kam durch die Untersuchungsausschüsse heraus, dass in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 auf der Titanic die Uhren um 47 Minuten zurückgestellt werden sollten. Doch von welcher Ausgangsbasis auf welche Uhrzeit die 47 Minuten zurückgestellt werden sollten, blieb unbekannt. Die Untersuchungsausschüsse von 1912 nannten zwar Zeitdifferenzen zwischen Schiffszeit Titanic und EST bzw. GMT, allerdings nannten sie unterschiedliche Zeiten. So blieb es der modernen Titanic-Forschung überlassen, dieses Rätsel zu lösen.
Relevant ist der Zeitunterschied z. B. für die Bestimmung, wann welche Eiswarnung am 14. April 1912 die Funkstation der Titanic erreichte und auch wann der erste Notruf gesendet wurde. Der erste Notruf wiederum ist ein Indikator dafür, wie lange für die Schadensfeststellung benötigt wurde. Die Funkmeldungen wurden entweder in New York-Zeit oder in Greenwich-Zeit erfasst. In den Funkstationen gab es dementsprechend zwei Uhren: Eine mit der Schiffszeit des Schiffes, auf dem sich die Funkstation befand, und die andere – in Abhängigkeit vom Längengrad – entweder in New York-Zeit oder in Greenwich-Zeit [3]. So ist zwar die Uhrzeit des ersten Notrufs der Titanic in EST bekannt, aber wenn die Zeitdifferenz zwischen Schiffszeit Titanic und EST nicht bekannt ist, weiß man nicht, wie spät es zum Zeitpunkt des ersten Notrufs auf der Titanic war.
Und nicht zuletzt ist die Kenntnis der Zeitdifferenz zwischen Schiffszeit Titanic und New York-Zeit bzw. Greenwich-Zeit dann wichtig, wenn man am Jahrestag des Untergangs die Ereignisse wirklich zeitgenau nachvollziehen möchte – denn 2:20 Uhr Schiffszeit Titanic entspricht nicht 2:20 Uhr in Deutschland oder in Österreich oder in der Schweiz.
1912 legte der amerikanische Untersuchungsausschuss den Zeitunterschied zwischen Schiffszeit Titanic und EST auf eine Stunde 33 Minuten fest. Diese Zeitdifferenz wurde erstmals in einem Funkspruch von der Carpathia an die Olympic am 15. April 1912 genannt und vom 2. Offizier Lightoller sowie dem 4. Offizier Boxhall vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss bestätigt [4]. Der 3. Offizier Pitman sagte zudem ganz klar, dass dieser Zeitunterschied bereits für den 14. April 1912 ab Mitternacht Bestand hatte, d. h. am ganzen 14. April 1912 betrug die Zeitdifferenz demnach eine Stunde 33 Minuten zur EST. Für die Nacht zum 15. April 1912 war eine Zeitumstellung von insgesamt 47 Minuten angekündigt worden, die jedoch nicht mehr durchgeführt wurde [5]. Geht man von der Zeitdifferenz von einer Stunde 33 Minuten am 14. April 1912 aus, dann hätte sich für den 15. April 1912 eine Zeitdifferenz von 46 Minuten zur New York-Zeit ergeben. Das erscheint nicht unbedingt plausibel, hat jedoch 1912 niemanden gestört.
Der britische Untersuchungsausschuss von 1912 legte den Zeitunterschied zwischen Schiffszeit Titanic und New York-Zeit am 14. April 1912 auf eine Stunde 50 Minuten fest [6]. Hier ignorierte man offenbar die Aussagen in den USA und auch den Funkspruch der Carpathia an die Olympic, in dem die Zeitdifferenz von einer Stunde 33 Minuten genannt wurde. Und damit gab es bereits im Jahr 1912 zwei Antworten auf eine Frage, die nur eine richtige Antwort zulässt. Im Laufe der Jahre sollte es nicht bei den zwei Zeitdifferenzen bleiben, sondern es folgten weitere, jede für sich in irgendeiner Weise begründet oder hergeleitet. Aber welche davon war die richtige Zeitdifferenz?
Die Reedereianweisungen
Für die Ermittlung des tatsächlichen Zeitunterschieds lohnt sich zuerst der Blick in die Regelungen der Reederei. Und darin gibt es drei Anweisungen, die für dieses Thema relevant sind [7]:
(die deutsche Übersetzung wurde eingefügt; das Original ist ausschließlich in englischer Sprache)
Time to be Kept. – Seventy-fifth meridian time must be used for time of arrival at and departure from Sandy Hook Lightship, Five Fathom Bank Lightship, and other points of arrival and departure in the United States and Canada. Greenwich Mean Time must be used in Abstract Logs after the English or Irish land is made. When passing points and ships at sea, either eastbound or westbound, Greenwich Mean Time, as well as ship’s time, must be used.
Zu führende Schiffszeit. – Die Zeit des 75. Meridians muss bei der Ankunft und Abfahrt vom Sandy Hook Feuerschiff, Five Fathom Bank Feuerschiff und anderen Ankunfts- und Abfahrtspunkten in den USA und Kanada verwendet werden. Greenwich-Zeit muss in den Abstract Logs verwendet werden, wenn England oder Irland erreicht wurde. Wenn Landmarken und Schiffe auf See passiert werden, unabhängig ob ostwärts oder westwärts, muss Greenwich-Zeit zusätzlich zur Schiffszeit verwendet werden.
Ship’s Time. – The Officer of the Watch will see that the ship’s time is changed between the hours of 10 p.m. and 6 a.m., the clocks to be set for Noon before 6 a.m. The Engine Room Clock must at all times agree with the Clock in the Wheelhouse, and must be corrected accordingly.
Schiffszeit. – Der Offizier der Wache ist dafür verantwortlich, dass die Schiffszeit zwischen 22 Uhr und 6 Uhr umgestellt wird; die Uhren sind vor 6 Uhr auszurichten auf die Mittagszeit. Die Maschinenraumuhr muss zu allen Zeiten mit der Uhr im Ruderhaus übereinstimmen und muss entsprechend korrigiert werden.
Ebenfalls geklärt wird, wie die Passagiere zu informieren sind:
ALTERATION IN TIME.
This will be shown each evening after dinner on the Notice Board specially provided for the purpose in the Companionway.
ZEITUMSTELLUNG.
Diese wird jeden Abend nach dem Dinner auf dem „schwarzen Brett“, das speziell für diesen Zweck zur Verfügung gestellt wird, im Durchgang angezeigt.
Daraus ergeben sich folgende Parameter für die Festlegung der Schiffszeit:
- Die Uhrenumstellung erfolgte zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens
- Die Schiffszeit war vor 6 Uhr morgens auf die Mittagszeit auszurichten
- Die Passagiere wurden durch Aushänge nach dem Dinner informiert
Der wichtigste Satz ist beinahe versteckt in den Anweisungen: Die Schiffszeit war vor 6 Uhr morgens auf die Mittagszeit auszurichten. Das heißt, die Schiffszeit der Titanic am 14. April 1912 zwischen 6 Uhr morgens und 22 Uhr abends entsprach der Ortszeit für die Mittagsposition vom 14. April 1912.
So spät war es!
Die Uhren an Bord müssen nach der Mittagszeit gestellt werden – am 14. April 1912 war damit die Mittagsposition der Titanic für diesen Tag maßgeblich. Von dieser Position bzw. von dem Längengrad wurde die Uhrzeit abgeleitet, die am 14. April 1912 von sechs Uhr morgens bis 22 Uhr abends Gültigkeit hatte.
Von den Aussagen Lightollers und Pitmans vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss geht klar hervor, dass die erste Zeitumstellung auf die erwartete Mittagsposition für den 15. April 1912 um Mitternacht durchgeführt werden sollte – so war es anscheinend auf White Star-Schiffen üblich. Und die Umstellung wurde nicht „in einem Rutsch“ durchgeführt, sondern auf zwei Wachen aufgeteilt. Die erste Zeitumstellung sollte wie bereits erwähnt um Mitternacht stattfinden, die zweite wäre während der anderen Wache zwischen 0 und 4 Uhr durchgeführt worden – entweder um 2 Uhr nachts, als die dienstälteren Offiziere wechselten, dann hätte der 1. Offizier, der für die Schiffsuhren verantwortlich war, beide Zeitumstellungen in seiner Wache gehabt, oder um 4 Uhr morgens. Doch in der Nacht zum 15. April 1912 wurde keine Zeitumstellung vorgenommen [8]. Damit galt die Mittagszeit vom 14. April 1912 von spätestens 6 Uhr morgens bis zum Untergang am 15. April 1912 [9].
Die Mittagszeit leitete sich von der Mittagsposition der Titanic am 14. April 1912 ab. Die Mittagsposition der Titanic am 14. April 1912 lautete 43° 02‘ Nord, 44° 31‘ West [10]. Für den Längengrad 44° 31‘ West beträgt der Zeitunterschied zur EST zwei Stunden zwei Minuten und zur GMT zwei Stunden 58 Minuten [10]. Zur mitteleuropäischen Zeit liegt der Zeitunterschied bei drei Stunden 58 Minuten und zur mitteleuropäischen Sommerzeit bzw. osteuropäischen Zeit vier Stunden 58 Minuten.
Woher kommen die anderen Zeiten?
Der Zeitunterschied von einer Stunde 33 Minuten wurde erstmals am 15. April 1912 in einem Funkspruch der Carpathia an die Olympic genannt. Laut Halpern (2011) sandte die Carpathia etwa eine Stunde vorher eine erste Meldung an die Olympic und gab dabei ihre Position mit 41° 15‘ Nord, 51° 45‘ West [11]. Der Zeitunterschied zwischen GMT und 51° 45‘ West beträgt drei Stunden 27 Minuten und zur EST damit eine Stunde 33 Minuten [11]. Es liegt auf der Hand, dass der Zeitunterschied von der in dem Telegramm genannten Position der Carpathia abgeleitet wurde. Warum diese Zeitdifferenz dann vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss auch als Zeitdifferenz zwischen Schiffszeit Titanic, die niemals so weit nach Westen gelangt war, und EST genannt wurde, darüber lässt sich heute nur noch spekulieren.
Die vom britischen Untersuchungsausschuss unterstellte Zeitdifferenz von einer Stunde 50 Minuten zwischen Schiffszeit Titanic und EST entspricht der Zeitdifferenz zwischen Schiffszeit Californian und EST und auch der Zeitdifferenz zwischen Schiffszeit Carpathia und EST. Die Carpathia war auf dem Weg von New York ins Mittelmeer, die Californian auf dem Weg von London nach Boston. Die Carpathia fuhr südlich des Eisfelds nach Südosten, die Californian befand sich in der Nacht zum 15. April 1912 in dem Eisfeld, in dem die Titanic scheiterte. Warum der britische Untersuchungsausschuss die Zeitdifferenz zwischen Schiffszeit Titanic und EST mit der Zeitdifferenz zwischen Schiffszeit Carpathia sowie Schiffszeit Californian und EST gleich setzte, ist nicht dokumentiert worden und lässt damit Raum für Spekulationen. Die Spekulationen sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgebreitet werden. Ebenso sollen keine weiteren falschen Zeitdifferenzen diskutiert werden. Die Schiffszeit der Titanic wurde von der Mittagsposition abgeleitet, und für den 14. April 1912 ergab sich aus der Position 43° 02‘ Nord, 44° 31‘ West ein Zeitunterschied von zwei Stunden und zwei Minuten zur EST. Und damit können nun die Ereignisse der letzten Nacht der Titanic in andere Zeiten umgerechnet werden – hier einige Eckwerte der Titanic-Geschichte:
Ereignis | Schiffszeit | EST | GMT | MEZ | MESZ |
Mittag 14.04.1912 | 12:00 | 09:58 | 14:58 | 15.58 | 16:58 |
Kollision | 23:40 | 21:38 | 02:38* | 03:38* | 04:38* |
Mitternacht
14./15.04.1912 |
00:00 | 21:58# | 02:58 | 03:58 | 04:58 |
Erster Notruf | 00:27 | 22:25# | 03:25 | 04:25 | 05:25 |
Letzter verständlicher Notruf | 02:00 | 23:58# | 04:58 | 05:58 | 06:58 |
Untergang | 02:20 | 00:18 | 05:18 | 06:18 | 07:18 |
* = nächster Tag (15. April 1912)
# = Vortag (14. April 1912)
In der Diskussion über Ostern 2018 war Markus ein Punkt sehr wichtig: Die zwei Stunden zwei Minuten Zeitunterschied zwischen Schiffszeit Titanic und EST bedeuten auch, dass der erste Notruf um 0:27 Uhr Schiffszeit Titanic empfangen wurde. Deswegen an dieser Stelle die ergänzende Betrachtung des ersten und letzten Notrufs der Titanic.
Der erste Notruf
Der erste Notruf der Titanic wurde um 22:25 Uhr EST empfangen – oder um 00:27 Uhr Schiffszeit Titanic. Das widerspricht vielen Zeitleisten zum Untergang der Titanic, die den ersten Notruf gegen Mitternacht Schiffszeit Titanic festsetzen. Doch diese fehlerhafte Zeitangabe in den Zeitleisten ist erklärbar. Bekannt ist die EST des empfangenen ersten Notrufs – 22:25 Uhr, dokumentiert von gewissenhaften Funkern, die jede empfangene oder gesendete Meldung entweder mit EST oder mit GMT kennzeichneten. So umging man die Verwirrung durch unterschiedlichste Schiffszeiten – EST und GMT sind feste Zeiten, von denen aus man jede mögliche Ortszeiten ableiten kann. 22:25 Uhr EST ist mit der mittlerweile nachweisbar ermittelten Zeitdifferenz zwischen Schiffszeit Titanic und EST 00:27 Uhr Schiffszeit Titanic.
Die Auffassung, dass die Titanic ihren ersten Notruf gegen Mitternacht Schiffszeit sendete, lässt sich auf die Zeitdifferenz von einer Stunde 33 Minuten zur EST zurückführen. Rechnet man nämlich auf die 22:25 Uhr EST die eine Stunde 33 Minuten auf, kommt man auf 23:58 Uhr, also Mitternacht. Doch – und das kann man gar nicht oft genug betonen – diese Zeitdifferent ist falsch! Auch wenn der amerikanische Untersuchungsausschuss die Zeitdifferenz von einer Stunde 33 Minuten zwischen Schiffszeit Titanic und EST quasi offiziell festlegte: Zwischen Schiffszeit Titanic und EST lagen zwei Stunden und zwei Minuten. Da die Titanic östlich von New York war, war es auf der Titanic später als in New York. 22:25 Uhr EST waren 00:27 Uhr auf der Titanic.
Das heißt aber auch: Kollision um 23:40 Uhr, Notruf um 00:27 Uhr, also benötigte man rund 45 Minuten für die Schadensermittlung, die Erkenntnis, dass die Titanic sinken würde, und die Ermittlung einer ersten Position für den Notruf. Das ist durchaus realistisch angesichts der damaligen Kommunikationsmittel (es gab weder Handy noch zumindest Walkie-Talkie oder Pager) und der Größe des Schiffes. Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass auch Kapitän Smith und Thomas Andrews Inspektionen machten, gleichzeitig Schadensmeldungen auf der Brücke eintrafen, die von Besatzungsmitgliedern persönlich gemacht wurden, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie viele Informationen es zu verarbeiten gab – und das ohne Unterstützung eines Computers. Es gab außerdem keine computergestützte Simulation, sondern es musste alles per Hand berechnet werden. Und für die Ermittlung der Notrufposition stand auch kein GPS zur Verfügung, sondern die Nautiker mussten mit analogen Hilfsmitteln wie Tabellen selbst rechnen [12].
Niemand evakuiert ohne zwingende Notwendigkeit ein Passagierschiff mitten auf dem Atlantik mitten in der Nacht – und als Titanic sendet man auch keinen Notruf mal einfach so auf Verdacht. Es musste also klar sein, dass etwas Gravierendes vorgefallen war, als der erste Notruf von der Titanic gesendet wurde. Und da erscheint eine Zeitspanne von 45 Minuten zwischen Kollision und erstem Notruf realistischer als die oft auf Basis einer falschen Zeitdifferenz abgeleiteten 20 Minuten.
Und der letzte Notruf
Nicht nur der erste Notruf wurde mit EST protokolliert, sondern auch alle weiteren [13]. Also müsste sich daraus doch auch ableiten lassen, wann der letzte Notruf von der Titanic gesendet wurde. Da gibt es allerdings ein kleines Problem: Die Virginian will den letzten Notruf der Titanic um 00:27 Uhr EST empfangen haben, das war 2:29 Uhr Schiffszeit Titanic. Aber die Titanic war doch um 2:20 Uhr schon untergegangen … Wie kann das also sein?
Zuerst ist erneut darauf hinzuweisen, dass der Zeitunterschied zwischen Schiffszeit Titanic und EST mit zwei Stunden zwei Minuten inzwischen in der internationalen Titanic-Forschung als gesichert gilt. Schiffszeit Titanic entsprach der Ortszeit der Mittagszeit des 14. April 1912, und die Ortszeit war die der Position 43° 02‘ Nord, 44° 31‘ West. – Der Zeitunterschied von zwei Stunden und zwei Minuten zwischen Schiffszeit Titanic und EST wird zeitgenössisch von Harold Bride, 2. Funker der Titanic, bestätigt, der aussagte, dass der Zeitunterschied auf den Uhren im Funkraum der Titanic, von denen eine EST und die andere Schiffszeit anzeigte, etwa zwei Stunden betrug. Die Ursache dafür, dass die Virginian um 2:29 Uhr Schiffszeit Titanic noch einen Notruf gehört haben will, muss außerhalb der Titanic gesucht werden.
Schaut man sich die Protokolle der Notrufe der Titanic an, sieht man, dass die Virginian die Titanic erst gehört haben will, als andere Stationen schon meldeten, dass sie seit längerer Zeit nichts mehr von der Titanic gehört hätten. Die Virginian war aber weiter von der Titanic entfernt als andere Schiffe, wie z. B. die Carpathia oder auch die Birma. Die Birma glaubte um 1:58 Uhr EST (3:00 Uhr Schiffszeit Titanic) die Titanic gehört zu haben und morste sie mit aufmunternden Worten an: „Dampfen mit voller Kraft zu Euch. Sollten gegen 6-0 morgens ankommen. Hoffen, Ihr seid unversehrt. Es sind jetzt nur noch 50 Seemeilen.“
Und auch von der Carpathia gibt es einen Funkspruch an die Titanic, der interpretiert werden kann, als hätte Cottam geglaubt, er hätte die Titanic noch mal senden gehört – das war um 1:25 Uhr EST oder 3:27 Uhr Schiffszeit Titanic: „Seid Ihr da? Wir feuern Raketen ab.“ Gehört und protokolliert hat diesen Funkspruch der Carpathia an die Titanic die Mount Temple.
Es ist daran zu erinnern, dass damals beim Funken keine Sprachsignale übertragen wurden, sondern einfach nur Morsecode, bestehend aus langen und kurzen Signalen, die über eine Taste, die Morsetaste, in Form von elektrischen Impulsen ausgelöst wurden. Funker hörten also ein langes oder ein kurzes Geräusch, vielleicht vergleichbar mit einem Knacken. Aber es funkten häufig mehrere Stationen durcheinander, und aus diesem Durcheinander mussten die Funker die Meldung einer Station erkennen und auch im Verlauf richtig zusammensetzen. Allerdings hatte jeder Funker beim Senden einen unverwechselbaren Anschlag, eine Art Handschrift, so dass eben nicht alles gleich klang, sondern Unterschiede hörbar waren.
Die Virginian will die Titanic erst gehört haben, als weder andere Schiffe noch Kap Race noch Funksprüche von der Titanic empfingen. Damit stellt sich die Frage, ob die Virginian möglicherweise nur den von einer anderen Station weitergeleiteten Notruf der Titanic gehört und ihm mangels anderer Vergleiche der Titanic zugeschrieben hat. Zu dem Notruf, der um 00:27 Uhr EST oder 2:29 Uhr Schiffszeit Titanic von der Virginian empfangen wurde, heißt es im Protokoll: „Virginian hört Titanic CQ rufen, kann ihn aber nicht lesen. Signale der Titanic enden sehr abrupt, als wenn Strom plötzlich abgeschaltet wird. […]“ [14]
Und liest man die Protokolle etwas weiter, stößt man auf einen weiteren Eintrag im Zusammenhang mit der Virginian, bei dem das gleiche Phänomen beobachtet wurde – wobei das sendende Schiff nicht gesunken ist: „Virginian tauscht Signale mit Baltic. Er versucht uns MSG für Titanic zu senden, doch seine Signale sterben völlig weg.“ [14]
Das bedeutet, dass auch Signale von Schiffen, die nicht sanken, wegsterben konnten. Dementsprechend hat die Beobachtung im Funkspruch von 00:27 Uhr, dass die Signale wegstarben, nicht zwangsläufig etwas mit dem Untergang der Titanic zu tun.
Was auch immer die Virginian um 00:27 Uhr EST gehört hat, es kann nicht die Titanic gewesen sein. – Es sei denn, die Uhr im Funkraum der Virginian, die EST anzeigte, war nicht richtig gestellt. Zumindest bei der White Star Line stand nicht ausdrücklich in den Reedereianweisungen, dass die Uhren im Funkraum mit den anderen Schiffsuhren synchron laufen mussten. In den Reedereianweisungen der White Star Line war explizit festgelegt, dass die Uhr im Maschinenraum mit der im Ruderhaus übereinstimmen musste (siehe oben). Die Funker hatten eine Sonderstellung an Bord, da sie nicht von der Reederei angestellt waren, sondern von der Gesellschaft, die die Funkstation an Bord betrieb, auf der Titanic war das die Marconi-Gesellschaft.
Wenn die Virginian wegen der angeführten Zweifel an den Aufzeichnungen nicht weiter betrachtet wird, wurde der letzte verständliche Funkspruch der Titanic gemäß den gesammelten Aufzeichnungen der Funker um 23:58 Uhr EST, 02:00 Uhr Schiffszeit Titanic von der Asian empfangen.
Und so hat die Lösung eines Rätsels der Titanic (Ortszeit für die Schiffszeit der Titanic) ein neues Rätsel (Was hat die Virginian um 00:27 Uhr gehört?) geschaffen, das vielleicht auch noch von der internationalen Titanic-Forschung gelöst werden wird.
[1] E-Mail vom 6. April 2018, 05:57 Uhr
[2] In Großbritannien wurde GMT als nationale Zeit am 2. August 1880 festgelegt. Österreich führte 1891 eine nationale Zeit ein, Deutschland 1893, die Schweiz bereits 1848.
[3] GB 8930-8931
[4] Halpern (2011), S. 337 f.
[5] Aussage Pitman vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss
[6] Halpern (2011), S. 338
[7] Störmer (2007), S. 125 f.
[8] Aussage Pitman vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss; Aussage Hichens in Fitch et al (2012), S. 291
[9] Eventuell wurden nach Feststellung der Mittagsposition noch mal Anpassungen im Minutenbereich erforderlich – Aussage Lightoller vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss – doch ob am 14. April 1912 noch nachjustiert wurde, ist nicht überliefert.
[10] Halpern (2011), S. 71 ff; Fitch et al (2012), S. 291
[11] Halpern (2011), S. 338
[12] Wie wir seit Entdeckung des Wracks der Titanic wissen, war die Notrufposition der Titanic falsch. Markus Philipp hat im Navigator Nr. 4, 6. Jahrgang (Februar 2003) dazu bereits einen Artikel verfasst, in dem er erläutert, wo der Fehler Boxhalls bei der Ermittlung der Notrufposition lag. Und die Diskussion mit ihm von Ostern 2018 lässt mich vermuten, dass Markus auch diesem Aspekt einen Teil seiner Serie „Kleines Einmaleins der Navigation“ gewidmet hätte. Leider endete die Serie unvollendet und abrupt mit Teil 8.
[13] Zu den Funksprüchen im Zusammenhang mit dem Untergang der Titanic siehe „Ohrenzeugen des Unglücks“, Navigator Nr. 78 (Juni 2017), S. 20 ff.
[14] „Ohrenzeugen des Unglücks“, Navigator Nr. 78 (Juni 2017), S. 22
Quellen:
Protokoll des britischen Untersuchungsausschuss (GB), abrufbar unter www.titanicinquiry.org
Protokoll des amerikanischen Untersuchungsausschuss (US), abrufbar unter www.titanicinquiry.org
Bäbler, Günter (2013), Das Crewbuch der Titanic. Die Entschlüsselung der Organisationsstruktur an Bord, Glattbrugg: ä wie Ärger Verlag
Fitch, Tad; Layton, J. Kent; Wormstedt, Bill (2012), On a Sea of Glass. The Life & Loss of the RMS Titanic, Stroud, Gloucestershire: Amberley Publishing
Halpern, Samuel (2011), Report into the Loss of the SS Titanic. A Centennial Reappraisal, Stroud, Gloucestershire: The History Press
Ohne Autor (1990), Report on the Loss of the S.S. Titanic. The Official Government Inquiry, Gloucester: Alan Sutton Publishing
Störmer, Susanne (2007), Dampfer Titanic: Eisberg voraus, Norderstedt: Books on Demand