Das verflixte Datum der Jungfernfahrt der Titanic

von Günter Bäbler

Das Schicksal, das die Titanic auf ihrer ersten Fahrt erwartete, provoziert geradezu Fragen wie „Was wäre, wenn…?“  Die Antwort dürfte meist lauten: „Dann wäre die Titanic wohl nicht gesunken!“ Das gilt natürlich auch, wenn ein anderes Datum ins Spiel kommt. Die bekannten möglichen Daten sind jedoch kaum komplett – ehe die Jungfernfahrt definitiv auf den 10. April 1912 festgelegt wurde, waren noch ganz andere Daten genannt worden.

Zunächst eine wichtige Vorbemerkung. Um den nachfolgenden Erklärungen folgen zu können, muss man sich oft in den Wissensstand zu einem bestimmten Datum hineinversetzen. Mehrmals wurde die Planung der White Star Line zu Makulatur, da sich eine neue Ausgangslage entwickelte. Ereignisse wie die Hawke-Kollision waren für die Reederei nicht absehbar – für Titanic-Interessierte gehören sie jedoch zum festen Bestandteil der Geschichte. Um die Handlungen der White Star Line nachvollziehen zu können, muss aus heutiger Perspektive all das ausgeblendet werden, was nach dem betrachteten Zeitraum eingetreten ist. Ein Beispiel: Wenn die White Star Line im Juni 1911 ein Datum für die Jungfernfahrt der Titanic festlegt, kann sie noch nicht wissen, dass die Olympic im September 1911 mit der Hawke kollidiert und das zu einer Verzögerung bei der Fertigstellung der Titanic führen wird. Auch können Tageszeitungen nur beschränkt zugezogen werden, da sie sich immer auf die effektiven Schiffsbewegungen beziehen, nicht die geplanten. So verbleiben nur wenige zeitgenössische Quellen, welche damals einen Blick in die Zukunft wagten. Viele der Fahrten, welche die White Star Line plante und hier erwähnt werden, fanden nie statt, oder wurden mit einem anderen Schiff durchgeführt.

Lange Zeit hielt sich die White Star Line bedeckt, mit den Daten für die Jungfernfahrten der Olympic und Titanic. Das genaue Datum der Jungfernfahrt der Olympic wurde erst nach dem Stapellauf bekannt gegeben. Sie lief am 20. Oktober 1910 vom Stapel, am 11. Januar 1911 wurde dann das Datum publiziert: Die Olympic sollte ihre erste Reise fünf Monate später, am 14. Juni 1911 antreten. Dieser Termin wurde eingehalten; vom Stapellauf bis zur Übergabe an die White Star Line vergingen gut sieben Monate.

Zuvor wurde immer nur verkündet, dass die beiden Schiffe 1911 ihren Dienst aufnehmen sollten. Das Datum für die Titanic stand nicht genau fest. Am 20. Oktober 1910 liess die White Star Line nur verlauten, dass die Titanic im Frühherbst 1911 in Betrieb genommen wird (vgl. TiPo 52 bzw. „In Kommission 1911„).

Doch im Jahresfahrplan vom 11. Januar 1911 tauchte die Titanic nicht auf. Fortan schrieb die White Star Line nur noch, dass die Titanic in Belfast „rapidly“ fertiggestellt wird – aber 1911 war vom Tisch, ohne dass dafür Gründe genannt wurden. Fünf Monate später zeigt der Fahrplan die identische Planung bis Ende 1911.

Das erste fixe Datum für die erste Fahrt der Titanic erschien in den Passagierlisten der White Star Line im August und September 1911: der 20. März 1912. Im Vergleich zur Olympic, für welche das Datum ja erst fünf Monate vor der Fahrt öffentlich wurde, sind die sechs Monaten sogar früh. Man liess sich für die Fertigstellung der Titanic nach dem Stapellauf also gute neun Monate Zeit, statt sieben Monate wie bei der Olympic – wozu werden wir sehen.

Am 20. September 1911 wurde die Olympic bei einer Kollision schwer beschädigt; die Reparatur hatte Vorrang und so wurden Arbeiter von der Titanic abgezogen. Dadurch verschob sich die Jungfernfahrt der Titanic um drei Wochen – sie sollte nun am 10. April 1912 in See stechen. Das Datum ist bekannt und das Schicksal dieser Reise auch.

Hatte die Titanic neben den drei erwähnten Daten (Frühherbst 1911, 20. März 1912 und 10. April 1912) vielleicht noch eine weitere Chance, ihrem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen? Vor einigen Jahren nahm ich ein kleines Flugblatt in die Sammlung auf – es schien mir interessant, weil es neue Informationen enthielt, die aber nicht richtig einzuordnen waren. Doch das Flugblatt drängte auch nicht darauf, verstanden zu werden. Auf der Rückseite des Papiers ist der Fahrplan für eine ausgedehnte Kreuzfahrt mit der Arabic abgedruckt, welche während zehn Wochen ab New York ins Mittelmeer (mit diversen Reisevarianten vor Ort) und dann ab Liverpool mit einem anderen Dampfer zurück nach New York führte. Eher zufällig studierte ich es vor ein paar Tagen noch einmal:

Die Aufnahme der neuen White Star Line Dampfer ‚OLYMPIC‘ und ‚TITANIC‘ in den Nordatlantikdienst der Reederei in diesem Sommer und Winter wird das Programm für 1912, wie es gedruckt wurde (Februar 1911), stark beeinflussen. Unter diesen Umständen wurde es unumgänglich, die Abfahrt der ‚ARABIC‘ im Kreuzfahrtprogramm um eine Woche zu verschieben.

Das neue Abfahrtsdatum ab New York ist der 8. Februar 1912.

Zu jedem Datum in diesem Programm einfach sieben Tage hinzuzählen. Eine Übersicht der Daten findet sich auf der Rückseite dieses Papiers.“

Auch dieses Mal wurde ich stutzig und beschloss, nun endlich verstehen zu wollen, was es damit auf sich hat. Dem Flugblatt kann man entnehmen, dass es nicht von der White Star Line, sondern vom Veranstalter der gecharterten Arabic-Reise gedruckt wurde, und dass er dieses Papier in die im Februar 1911 gedruckten Programme legte – bereits gebuchte Passagiere wurden sicherlich direkt informiert. Der Infozettel wurde gemäss Rückseite am 1. August 1911 zum Druck gegeben.

Die White Star Line muss also den Veranstalter Ende Juli 1911 informiert haben, dass der geplante Charter per 1. Februar 1912 nicht möglich ist, sondern erst ab dem 8. Februar. Als Grund dafür wird die Indienststellung der Olympic und Titanic genannt. Im Juli 1911 war die Olympic bereits im Dienst und von einer Reparatur durch eine Kollision war noch lange keine Rede. Die plötzliche Verschiebung des Arabic-Charters musste also mit der Titanic zusammenhängen.

Begründet wurde die Verschiebung mit der Indienststellung im Sommer und Winter, die Olympic war seit Sommer Dienst, also muss die Titanic für den Winter geplant gewesen sein, wann genau ist nicht dokumentiert. Der 20. März klingt nicht nach Winter, liegt aber noch im Winterfahrplan der White Star Line, der am 31. März endet.

Eine neuerliche Verzögerung bei der Titanic scheint also den Fahrplan der Arabic um eine Woche geschoben zu haben. Dem gegenüber steht ein Artikel in der New York Times vom 29. Juni 1911, laut dem die Titanic im März 1912 erwartet wurde, aber noch ohne ein konkretes Datum. Am 20. Juni 1911 berichtete die Zeitung noch von der Jungfernfahrt „Anfang nächsten Jahres“.

Wir sollten davon ausgehen können, dass die White Star Line gegenüber dem Charternehmer der Arabic den Grund ehrlich kommuniziert hat, und tatsächlich die Inbetriebnahme der Olympic und Titanic der Anlass für die Verschiebung war. Ebenfalls gibt es keinen Grund, die New York Times vom 29. Juni 1912 zu hinterfragen, da die Jungfernfahrt der Titanic tatsächlich im März 1912 stattfinden sollte. Demnach muss der Entscheid für das Jungfernfahrtsdatum im Juni 1911 gefällt worden sein. Die verbleibenden Wochen im Juli wurden wohl dazu benötigt, die Fahrpläne umzuschreiben und Abklärungen mit den betroffenen Agenturen und Reedereien zu treffen.

Um die Schiffsverschiebungen zu verstehen, werden zwei Fahrpläne herangezogen, zum einen jener, welcher mit der Jungfernfahrt der Olympic Anfang Juni 1911 veröffentlicht wurde (Abfahrten ab Southampton vom 7. Juni bis 27. Dezember 1911) sowie jener acht Wochen später (Abfahrten vom 2. August 1911 bis 24. April 1912).

Die White Star Line hatte bis im August 1911 vier Schiffe auf der Route Southampton – New York im Einsatz. Am 12. August 1911 verliess die Oceanic als erstes Schiff New York an einem Samstag, statt an einem Mittwoch. Damit stellte die White Star Line auf einen Dreischiffbetrieb um, was die Liegezeit in den Häfen drastisch verkürzte und bei den betroffenen Arbeitern auf wenig Freude stiess (vgl. TiPo 49, „Ankunft Dienstag in New York„). Die Olympic, Majestic und Oceanic sollten wöchentliche Abfahrten in beide Richtungen sicherstellen. Dies war für den ganzen Rest des Jahres so geplant. Der Fahrplan war wunderbar aufgeräumt im Vergleich zum Vorjahr. Im Winter 1910/11 brachten zahlreiche Winterkreuzfahrten den stabilen Fahrplan durcheinander, damals wurden Schiffe der American Line eingesetzt, während einige White Star Liner auf Kreuzfahrt waren.

RMS Majestic von 1890

RMS Oceanic von 1899.

RMS Olympic von 1911

Die „Running Mates“ Majestic, Oceanic und Olympic im Vergleich. Die White Star Line plante ursprünglich, diese Dampfer im Dreischiffbetrieb einzusetzen, bis die Majestic von der Titanic abgelöst werden sollte.
Diese Seitenansichten schmeicheln den kleinen Dampfern; die Tonnage zeigt die Diskrepanz deutlicher:
Majestic 10.147 BRT, Oceanic 17.274 BRT, Olympic 45.324 BRT.
(Sammlung Bäbler, D709c, C611k, TB26b)

Beim Inkrafttreten des Dreischiffprinzips, war der überarbeitete Fahrplan von Anfang August bereits publiziert. Daraus geht hervor, dass sich die White Star Line vor der Einführung auch schon wieder von diesem System verabschiedet hatte, zumindest vorübergehend. Statt einer schlichten wöchentlichen Routine war nun auf der Route einiges los. Plötzlich tauchten wie im Vorjahr Schiffe der American Line auf, bis zum März 1912 sollten die St. Paul viermal, die Philadelphia dreimal und die St. Louis zweimal aushelfen. Erst die Titanic sollte Ruhe in den Fahrplan bringen. Ab dem 13. März 1912 waren die Olympic, Titanic und Oceanic im Dreiwochenrythmus geplant, in der Reihenfolge und beginnend mit der Olympic. Die ursprünglich bis Ende Jahr vorgesehene Majestic sollte sich nun schon im November 1911 aus dem Liniennetz verabschieden. Die American Line Schiffe waren mit ihren 20 Knoten zu langsam für den White Star Line Expressdienst ab Southampton, so dass ein White Star Line Schiff auf dieser Route  durch insgesamt drei American Line Schiffe ersetzt werden musste, um die wöchentliche Abfahrt sicherzustellen.

Als Grund für diese doch eher abenteuerliche Fahrplangestaltung, kommen zum Zeitpunkt der Entscheidung im Juni/Juli 1911 die Olympic und Titanic nicht in Frage. Die Ursache müsste bei der Majestic liegen, die im November aus dem Fahrplan genommen werden sollte und auch nicht auf einer anderen Route auftauchen würde. Es stellen sich zahlreiche Fragen, allen voran, warum die White Star Line nicht versuchte, die moderne Adriatic auf der Prestigeroute zu halten. Die Adriatic war mit 18 Knoten das schnellste Schiff der Big Four, eines der grössten und schönsten Schiffe der White Star Line, aber eben mit 18 Knoten zu langsam für den Dreischiffbetrieb. Stattdessen würfelte man  kuriose Weggefährten für die Olympic und Oceanic zusammen, anfänglich mit der Majestic und dann mit den Dampfern der American Line. Dass die Majestic kaum mithalten konnte mit ihren 20 Knoten und über 20 Dienstjahren, ist naheliegend. Aber die White Star Line hatte keine Alternativen, wie die Liste der White Star Liner zeigt, die 1911 im Dienst waren und 20 oder mehr Knoten erreichten:

Schiff Baujahr Größe
Teutonic 1889 9.984 BRT
Majestic 1889 10.147 BRT
Oceanic 1899 17.274 BRT
Olympic 1911 45.324 BRT

Die Oceanic und Olympic scheinen aufgrund ihrer Grösse gesetzt. Die Teutonic wurde im Winter 1910/11 umgebaut; sie führte danach keine Erste Klasse mehr und wurde als Zweiklassendampfer im Kanadadienst eingesetzt, einzig die Majestic konnte demnach das Trio komplettieren.

Zurück zur Arabic, welche laut dem Flugblatt wegen der Olympic und Titanic ihre Mittelmeerkreuzfahrt im Februar 1912 um eine Woche verschieben musste. Sie war im Sommer 1911 auf der Liverpool – New York-Route im Einsatz und wechselte am 1. August 1911 auf die Liverpool – Boston-Route. Die Fahrpläne vom Juni und August 1911 für die Arabic sind weitgehend deckungsgleich, ausser einer Abfahrt, die um drei Tage auf den 1. September geschoben wurde. Am 5. Dezember 1911 sollte die Arabic von Boston nach Liverpool fahren: Ursprünglich wäre diese Fahrt die letzte der Arabic für 1911 gewesen. Laut dem überarbeiteten Fahrplan vom August 1911 sollte sie aber am 21. Dezember wieder auf eine Rundreise nach New York geschickt werden. Dann war die nächste Fahrt am 25. Januar 1912, um in New York am 8. Februar 1912 die Mittelmeerkreuzfahrt mit einer Woche Verspätung anzutreten. Die dazugekommene Arabic-Fahrt vom 21. Dezember 1911 sollte ursprünglich die Cedric machen. Warum die Cedric eine Pause einlegte ist nicht bekannt.

Beim Vergleich der beiden Fahrpläne wächst der Eindruck, dass die White Star Line im Juli 1911 fast ohne Tabus die Fahrpläne durcheinanderwirbelte. Fahrpläne, welche noch im Juni so einfach waren, dass man sie sich problemlos einprägen konnte, waren nun nicht mehr nachvollziehbar. Hierfür muss es mehrere Gründe gegeben haben.

Der intern geplante Fahrplan, der nie veröffentlicht wurde, ist leider nicht überliefert – fest steht nur, dass die Titanic im Fahrplan für 1911 nicht auftauchte. Trotzdem scheint es, als hegte man beim Stapellauf noch die Hoffnung, dass die Titanic noch 1911 in Dienst gestellt werden könnte. Am 1. Juni 1911 wurde die Indienststellung auf „Ende des Jahres“ angekündigt. Die New York Times, die ihre eigenen Korrespondenten in Europa hatte, schien an dem Datum mehr interessiert als lokale Zeitungen, die New York Times dokumentierte, wie sich zeigen wird, die Datumsfrage am besten.


Ausriss aus der New York Times vom 1. Juni 1911:
Die Indienststellung der Titanic wird darin für Ende 1911 avisiert.
(Sammlung Günter Bäbler)

Doch wie lange im Voraus war die Fertigstellung abzuschätzen? Die Olympic brauchte für den Endausbau vom Stapellauf an gerechnet gut sieben Monate. Die White Star Line gab das Jungfernfahrtdatum der Olympic im Januar 1911 bekannt, fünf Monate vor der Fertigstellung. Man hielt also im Fall der Olympic die Zeitspanne vom Stapellauf (20. Oktober 1910) bis zur Fertigstellung (31. Mai 1911) mit sieben Monaten für möglich. Die Schätzung erwies sich als realistisch und die Olympic wurde fertig. Zu diesem Zeitpunkt war auch bereits das Datum des Stapellaufes der Titanic durchgesickert: der 31. Mai 1911 wurde im Dezember 1910 erstmals genannt und auch eingehalten. Für die Titanic durfte man auch von sieben Monaten ausgehen. Rechnet man vom Stapellauf der Titanic sieben Monate dazu, dann war ein Bauabschluss im Januar 1912 zu erwarten. Am 20. Juni 1911 zitierte die New York Times aus dem am Vortag veröffentlichten Geschäftsbericht der International Mercantile Marine: „Die Titanic, das Schwesternschiff der Olympic, soll Anfang nächsten Jahres den Dienst aufnehmen.“


Am 10. Juni 1911 kündigte die New York Times die erste Ankunft der Olympic in New York für den 21. Juni an – und die Indienststellung der Titanic für „später im Jahr“. Diese Einschätzung zur Indienststellung der Titanic wurde aber am 20. Juni  1911 auf „Anfang nächsten Jahres“ geändert.
(Sammlung Günter Bäbler)

Die Olympic hatte ihre erste Fahrt absolviert und schon sollten zahlreiche Verbesserungen bei der Titanic verwirklicht werden. Die Reederei konnte bei der Bauwerft nicht nur Wünsche anbringen, sondern musste Harland & Wolff auch Zeit für die Planung und Umsetzung zugestehen, zumal die Änderungen nebst baulichen Eingriffen (zum Teil auch Rückbau) erst noch auf dem Papier ausgearbeitet werden mussten. Ein Zeitraum von mehreren Wochen erscheint realistisch.

Die grösste Anpassung der Titanic wurde auf dem B-Deck vorgenommen. Auf der ersten Fahrt der Olympic erkannte man, dass die Promenade auf dem B-Deck von den Passagieren kaum genutzt wurde, sie hielten sich lieber auf dem A- und Bootsdeck auf. Die White Star Line sah darin die Chance, zahlreiche gewinnbringende Kabinen an bester Lage einzubauen. Der Zeitpunkt für diese Planänderung war optimal, da sich die Titanic im Juni 1911 noch in einer Bauphase befand, in der eine solche Anpassung mit vergleichsweise kleinem Aufwand bewerkstelligt werden konnte.

Diese Anpassung bedeutete eine Verzögerung und aus der Fertigstellung „Anfang 1912“ wurde „März 1912“. Als Folge müsste die Majestic länger im Fahrplan bleiben, bis die Titanic sie ablösen könnte. Der genaue Zustand des in die Jahre gekommenen Dampfers ist nicht überliefert, aber die alljährliche Überholung der Majestic konnte vermutlich nicht bis im März aufgeschoben werden. Wenn die Titanic schätzungsweise acht bis zehn Wochen später in Fahrt kam, mussten diese Wochen auf andere Schiffe verteilt werden. Mit dem Entscheid, die Titanic weiter zu verspäten, musste man sich wohl vom aufgeräumten Fahrplan verabschieden. Dies brachte in einer Kettenreaktion den kompletten Winterfahrplan durcheinander, da die winterliche Überholung der Schiffe ebenfalls koordiniert werden musste.

Es scheint, dass vor dem August 1911 mit Ausnahme des Arabic-Charters keine Fahrten für 1912 publiziert wurden. Auf dem Charterprogramm war auch das Schiff für die Rückreise der amerikanischen Reisenden von Liverpool nach New York noch nicht definiert, da hiess es für den 11. April 1912 nur: „Transfer auf anderen Dampfer.“ Die Reise machte dann die Celtic, praktisch zeitgleich mit der Titanic, und die Reisenden dieser Kreuzfahrt hatten nach der zweifelsohne eindrücklichen Reise einen betrübten Abschluss, als die Neuigkeiten von der Titanic auf der Celtic die Runde machten.

Mit diesen Informationen können wir uns auf die Suche eines Datums begeben, zu welchem die Titanic in Dienst gestellt worden wäre, wenn im Sommer 1911 nicht Verbesserungen am halbfertigen Schiff geplant und ausgeführt worden wären. Als Quelle gibt es nur den ursprünglichen Fahrplan vom Juni 1911, der im Dezember 1911 endet. Alle späteren Fahrpläne basieren auf der veränderten Ausgangslage des Umbaus, als der 20. März 1912 bereits festgelegt war. Der effektiv gefahrene, sehr chaotische Fahrplan des Winters 1911/1912 (nicht einmal die Wochentage der Abfahrten wurden eingehalten) kann ebenso ignoriert werden, da dieser aus dem Ausfall der Olympic nach der Hawke-Kollision resultierte.

Laut dem ursprünglichen Fahrplan waren die Schiffe Olympic, Majestic und Oceanic im regelmässigen Turnus. Mit der Inbetriebnahme der Titanic wäre die Majestic ausgeschieden. Die Abfahrtstermine der Majestic (rechnet man im Dreischiffbetrieb weiter) sind somit auch Daten, an denen die Titanic den Betrieb hätte aufnehmen können. Die Fortführung der Routine hätte in folgendem Fahrplan (Abfahrt ab Southampton) resultiert:

                 Datum Schiff
3. Januar 1912 Olympic
10. Januar 1912 Majestic oder Titanic
17. Januar 1912 Oceanic
24. Januar 1912 Olympic
31. Januar 1912 Titanic
7. Februar 1912 Oceanic
14. Februar 1912 Olympic
21. Februar 1912 Titanic
28. Februar 1912 Oceanic
6. März 1912 Olympic
13. März 1912 Titanic
20. März 1912 Oceanic
27. März 1912 Olympic
3. April 1912 Titanic
10. April 1912 Oceanic

Demnach wäre nicht die Titanic, sondern die Oceanic am 10. April 1912 ab Southampton Richtung New York gefahren. Das Schicksal der Titanic, mit den unzähligen „Was wäre wenn…?“-Fragen, wurde also auch durch Entscheide im Sommer 1911 besiegelt, als man sich dafür entschied, dass der neue Liner mit baulichen Anpassungen die Olympic überflügeln sollte und die Majestic aus dem Fahrplan genommen wurde.

Dieser ursprüngliche Fahrplan gibt viel Raum für Spekulationen und weitere „Was wäre, wenn?“ Fragen. Natürlich ist es müssig darüber zu diskutieren, denn die Geschichte ist eben Geschichte. Was hätte sich wohl auf der Oceanic abgespielt, wenn sie am 10. April 1912 Southampton verlassen hätte? Es scheint, als ob in der Entscheidung die Titanic noch perfekter als die Olympic zu machen und sie dadurch weiter zu verspäten, ihr Schicksal beeinflusst wurde. Durch die Verwirbelung der Fahrpläne brachte sie sich in Position, um am 20. März und 10. April 1912 ihre ersten beiden Fahrten zu beginnen. Die Kollision der Hawke mit der Olympic machte dann aus der zweiten Fahrt der Titanic die Jungfernfahrt.

Zum Schluss sei im Zusammenhang mit der Majestic noch auf einen Fehler hingewiesen, den sich zahlreiche Autoren gegenseitig abgeschrieben haben – offenbar ohne die Fahrpläne zu studieren. Oft ist zu lesen, dass die Majestic als Reserveschiff nach dem Untergang wieder in Dienst gestellt wurde. Fakt ist, dass die Majestic im korrigierten Fahrplan vom 2. August 1911 ab November 1911 nicht mehr im Streckennetz auftaucht. Vermutlich wurde einfach die jährliche Überholung vorverlegt, ein Plan der durch den Olympic-Unfall im September 1911 abermals verworfen wurde. Danach war das vermeintliche Reserveschiff Majestic für das ganze 1912 auf der Route Liverpool – Boston geplant. Doch auch dieser Plan wurde verworfen – nach der Titanic-Katastrophe wechselte sie wieder auf die Route Southampton – New York und hinterliess zwischen Liverpool und Boston einen ausgedünnten Fahrplan.

Quellen:
– Diverse White Star Line Passagierlisten und Fahrpläne, 1910 bis 1912
– Infoblatt zur Mittelmeerkreuzfahrt der Arabic, 1911
– Lloyd’s Register of Shipping, 1911-12, London 1911
– New York Times, diverse Ausgaben 1911

Dank:
Daniel Klistorner
Susanne Störmer

© Günter Bäbler, 2011.

Erstveröffentlichung: Titanic-Verein Schweiz, Titanic Post Nr. 76, Juni 2011