Die Legende vom Dinner bei Lord Pirrie im Sommer 1907

von Günter Bäbler

Bereits in meinem Buch „Reise auf der Titanic“ setzte ich mich mit der Legende auseinander, dass die Olympic und Titanic im Sommer 1907, im Anschluss an ein Dinner bei Lord Pirrie in London geplant wurden. Die These, dass diese Geschichte ins Reich der Legenden gehört, möchte ich mit diesem Artikel weiter erhärten.

Wann immer sich jemand anschickt, eine Legende zu zerstören, so muss er sich den Folgen bewusst sein. In diesem Falle dürften die Reaktionen nicht sehr heftig sein, hoffentlich gibt es niemanden, der sein Interesse am Thema Titanic mit dieser Geschichte begründet. Ich glaube also nicht, dass für den Leser eine Welt zusammenbricht, wenn er diesen Artikel gelesen hat.

Doch von welcher Legende reden wir genau? In praktisch allen Titanic-Sachbüchern (Donald Lynch, John P. Eaton & Charles A. Haas, Harro Hess & Manfred Hessel, Tom McCluskie, Daniel Allen Butler u. a.) findet sich folgende Geschichte, die ich auf die wesentlichen Inhalte zusammengefasst habe:

An einem milden Abend im Sommer 1907 war Bruce Ismay, Präsident der International Mercantile Marine (Mutterfirma der White Star Line) bei William James Pirrie, dem Vorstandsvorsitzenden der Werft Harland & Wolff, zu Gast im sogenannten „Downshire House“ in London. Im Anschluss an das Abendessen zogen sich die Männer zurück und machten erste Skizzen von einem neuen Schiffstyp. Die Idee für die Olympic und Titanic war geboren.

Soweit die allgemein bekannte Geschichte. Doch bei einem solch gigantischen Bauprojekt und vor allem bei einem derart ungewöhnlichen Ereignis wie dem Untergang der Titanic sollte man nachfragen, wann dieses Projekt seinen Anfang nahm. Mir erscheint die Jahreszahl 1907 geradezu unmöglich. Da ich aber das richtige Datum nicht eruieren konnte, bleiben meine „Beweise“ am Ende nur „Indizien“.

Indiz 1: Die Hellinge 2 und 3 bei Harland & Wolff
Die Baugerüste für die Olympic und Titanic wurden 1907 extra für diese Schiffsklasse gebaut. Man baute nicht nur eine Helling, sondern gleich zwei, um schneller zwei Schiffe parallel bauen zu können. Für die beiden Hellinge 2 und 3 wurden die ehemaligen Nummern 2, 3 und 4 zerstört. Doch damit musste man bis zum Stapellauf der Adriatic am 20. September 1906 warten. Mit dem Abriss dieser Hellinge begann indirekt der Bau der Olympic und Titanic. Warum sollte man sonst zwei 1000-Fuss-Hellinge bauen, wenn man keine Schiffe in der Größe plant? (2, 4, 7)

Indiz 2: Das Thompson Trockendock in Belfast
Für jedes Schiff, das gebaut wird, muss es eine Möglichkeit geben, es ins Trockendock zu nehmen, um Reparaturen und Wartungsarbeiten unter der Wasserlinie vornehmen zu können. Je grösser die Schiffe, desto grösser die Trockendocks. Umgekehrt macht es aber keinen Sinn, Trockendocks zu bauen in einer Grösse, in der es keine Schiffe gibt. Am gigantischen Thompson Trockendock in Belfast wurde sieben Jahre gebaut. Anfang 1904 wurde mit dem Bau begonnen, die vorangehende Planungszeit darf nicht unterschätzt werden. Schloss man das Tor des Docks in der äußeren Position, ergab dies eine Länge von 887 Fuss, nur wenige Zentimeter länger als die Olympic und Titanic. Auch hier stellt sich die Frage: Warum sollte man 1903 ein Trockendock planen, und sich erst 1907 Gedanken zum Schiff zu machen, das auch ein so großes Dock benötigt? (2, 3)

Indiz 3: Die Bestellbücher bei Harland & Wolff
Seit den Anfängen von Harland & Wolff (1859) erhielt jedes Schiff eine Baunummer. Diese wurde nach dem Bestellungseingang vergeben. Die Baunummern 400 und 401 wurden der Olympic und Titanic zugeteilt. Bei Harland & Wolff registrierte man die Bestellung am 30. April 1907. Natürlich musste die Werft zu diesem Zeitpunkt bereits wissen, wie gross das Bauvolumen eines Schiffes ist, um es in die Logistik der Firma einzubetten. Das heisst, Schiffstyp und die Abmessungen müssen beim Bestellungseingang bekannt gewesen sein.
Fünf Monate später wurde das Schiff Nummer 402, die Leopoldville (später Abinsi) bestellt. Wie bei den meisten Schiffen erfolgte die Kiellegung bei Harland & Wolff etwa zwei Monate nach dem Bestellungseingang. Dieses relativ kleine Schiff war schnell fertiggestellt und lief am 13. August 1908 vom Stapel. Diese kurze Bauzeit erklärt sich mit der Größe des Schiffes und der Erfahrung der Werft. Die Planungs- und Bauphase war Routine der Werft.
Im Falle der Olympic und Titanic mussten hingegen viele Vorbereitungen getroffen werden. Da manches von noch nie dagewesener Größe war, wurde auch während dem Bau weiter konstruiert und berechnet.

Das Bestelldatum im Frühjahr 1907 macht das legendäre Treffen im Sommer 1907 unmöglich. (1, 2)

Indiz 4: Die ungleichen Zwillinge Laurentic und Megantic
Im ersten Halbjahr 1909 lieferte Harland & Wolff die beiden äusserlich fast identischen Schwestern Laurentic und Megantic an die White Star Line. Doch im Innern gab es einen wichtigen Unterschied: Bei der Laurentic wurde der Abdampf vom Niederdruckzylinder nicht in die Kondensatoren geleitet, sondern in eine Turbine, die eine dritte Schraube antrieb. Der Wirkungsgrad der Laurentic war somit wesentlich besser als derjenige der Megantic. Darum entschied man sich bei der Olympic und Titanic für das neue, kombinierte „Laurentic-System“. Dies bedeutet einerseits, dass die Konstrukteure die endgültige Wahl der Maschinenanlage bis 1909 hinauszögern mussten. Doch auch ein solcher Versuch muss sorgfältig vorbereitet sein. Der Entscheid, diesen Versuch einzuführen, fiel 1907. (Um die Turbine an Bord der Laurentic zu heben, benötigte man wiederum den extra in Deutschland hergestellten Schwimmkran, der bereits 1908 geliefert wurde.) (2, 4)

Indiz 5: Chefkonstrukteur Thomas Andrews
1904 wurde Thomas Andrews zum stellvertretenden Chefkonstrukteur bei Harland & Wolff. Schon im nächsten Jahr nahm er den Chefposten ein. Doch ein Blick in die Bestellbücher von Harland & Wolff zeigt, dass so grosse Eile auch nicht geboten war. Denn ausser der Adriatic (deren Konstruktionsphase praktisch abgeschlossen war) gab es bei Harland & Wolff keine grosse Herausforderung zu bewältigen. Die Arbeit eines Chefkonstrukteurs besteht jedoch darin, die Visionen seiner Auftraggeber auf die Durchführbarkeit zu prüfen. Die ruhigere Zeit ab 1905 wäre ideal gewesen, um die Vorabklärungen für Grossprojekte zu treffen. (2, 6)

Indiz 6: John Pierpoint Morgan
Morgan war der eigentliche Besitzer der White Star Line. Er und kein anderer fällte die Entscheidung zum Bau der Olympic und Titanic. Seit 1902 kontrollierte er die White Star Line, ein Jahr später entschied die britische Regierung, die Konkurrenz Cunard Line zu subventionieren, indem sie der Reederei faktisch die Schnelldampfer Lusitania und Mauretania schenkte. Dies war ein grosser Rückschlag für Morgan, denn nun rückte seine erhoffte Vorherrschaft auf dem Nordatlantik in die Ferne. Er wusste, dass er sich nur mit ebenbürtigen Schiffen behaupten konnte. Zudem war ihm bewusst, dass die Anschaffung von großen Schiffen, von der Planung bis zur Inbetriebnahme, einige Jahre dauert. Es ist geradezu unvorstellbar, dass der sonst so clevere Morgan tatenlos wartete, bis einige Jahre später Bruce Ismay und Lord Pirrie die geniale Idee hatten, neue Schiffe zu bauen. (5)

Indiz 7: Lusitania und Mauretania
Die sehr großzügige Subventionierung der beiden Cunarder Lusitania und Mauretania durch die britische Regierung, lockte die Herren der White Star Line aus der Reserve. Die einzige Möglichkeit sich im Wettrennen zu behaupten war, weiter zu investieren. Die Lusitania ging im September 1907 auf Jungfernfahrt, die Mauretania zehn Wochen später. Wieviel Sinn macht es, im Sommer 1907 über den Bau von neuen Schiffen zu beraten, nachdem man mehrere Jahre der Konkurrenz beim Bau zugeschaut hat? Wenn die Verantwortlichen der White Star Line tatsächlich bis dahin nichts unternommen haben, so hätten sie noch ein paar Monate warten können, um sich von der Konkurrenz inspirieren zu lassen.

Indiz 8: Die Geschichte fehlt in der massgebenden Literatur
Die folgenden wichtigen Quellen rund um die Hauptpersonen und den Bau verschweigen die erste Planungsphase:

  • Shan F. Bullock, A Titanic Hero, Thomas Andrews, Shipbuilder,Belfast, 1912 (Thomas Andrews‘ Biographie)
  • Herbert Jefferson, Viscount Pirrie of Belfast, Belfast, ca. 1948 (Lord Pirries Biographie)
  • Michael Moss und John R. Hume, Shipbuilders to the World,Belfast, 1986 (Harland & Wolff Firmengeschichte)
  • Ohne Autorenangabe, Olympic & Titanic, Shipbuilder, Newcastle-on-Tyne, 1911 (Sondernummer zur Jungfernfahrt der Olympic)

Diesen Publikationen steht alleine William J. Oldhams Buch „The Ismay Line“ von 1961 gegenüber. Bei allen späteren Büchern mit der Geschichte um das legendäre Dinner scheint es sich um Umformulierungen dieser Grundversion zu handeln.

Die Lösung?
Wenn Oldhams Buch wirklich die erste Nennung der Geschichte wäre, so gäbe es auch eine einfache Erklärung für den Fehler. Die grösste Hilfe bei den Recherchen bot nämlich Julia Florence Ismay, die Witwe von Bruce Ismay (1862 – 1937) kurz vor ihrem Tod. Sie gab dem Autor bereitwillig Auskunft und gewährte ihm Zugang zu den Familiendokumenten. Sollte sich Mrs. Ismay – die ja bei dem angeblichen Treffen 1907 dabei war – einfach in der Jahreszahl geirrt haben, so wäre dies des Rätsels Lösung. Immerhin waren schon ein paar Jahrzehnte seit dem legendären Dinner verstrichen. Es gab keinen Grund, Mrs. Ismay nicht zu glauben. Vielleicht waren aber die Ismays 1907 wirklich zu Gast bei den Pirries und die Männer schwärmten von den neuen Schiffen, von denen sie bis dahin ihren Frauen nichts erzählt hatten. Dies ist aber eine reine Spekulation von mir. (8)

Mit diesen Indizien will ich nicht etwa einen Schwindel aufdecken. Ich möchte damit nur aufzeigen, dass diese Legende gründlich überdacht werden muss. Die Geheimhaltung erfolgte aus marktstrategischen Gründen, nicht etwa um etwas Unsauberes zu verbergen. Dass die White Star Line und ihre Partner bei Harland & Wolff nicht wollten, dass die Konkurrenz und die Öffentlichkeit allzufrüh von den neuen Schiffen erfährt, ist verständlich. Natürlich wusste man auch bei Cunard, dass die White Star Line nicht tatenlos dem Erfolg der Lusitania und Mauretania zusehen würde. Doch welche Massnahmen ergriffen würden, dies sollte niemand wissen. Dass die Schiffe aber immer größer werden sollten, war damals kein Geheimnis. Die Frage war nur, wer den nächsten Schritt wagte. Schon vor der Jungfernfahrt der Olympic sprach man über weit größere Schiffe. 1911 entlockte ein amerikanischer Journalist Lord Pirrie die Aussage, dass man wohl in den 20er Jahren 100.000 BRT grosse Schiffe bauen könne. Von der Idee bis zum fertigen Schiff einer neuen Generation rechnete man also rund zehn Jahre ein, nicht nur vier Jahre wie Titanicer glauben wollen.
Keine Reederei durfte sich auf den Lorbeeren, die ihnen die Schiffe brachten, ausruhen. Im Falle der White Star Line sorgten zwar die „Big Four“ (Celtic, Cedric, Baltic, Adriatic) für Aufsehen unter den Reisenden, doch dass dieses nur von begrenzter Dauer war, wussten alle. Ein Nachfolge-Trio war die logischste Reaktion darauf, und die musste eben lange vorbereitet werden. Lange vor 1907.

Ich revidiere hiermit die Schätzung in meinem Buch und tippe auf 1903.

© Günter Bäbler, 2000

Quellen:
1 Harland & Wolff Order Book, 1907
2 Michael Moss and John R. Hume, Shipbuilders to the World, Belfast, 1986
3 Engineering, 2. August 1912, London, 1912
4 Ohne Autorenangabe, OLYMPIC & TITANIC, Shipbuilder, Newcastle-on-Tyne, 1911
5 Carl Hovey, The Life Story of J. Pierpoint Morgan, The Magnificent, New York, 1930
6 Shan F. Bullock, A TITANIC HERO, Thomas Andrews, Shipbuilder, Belfast, 1912
7 Michael McCaughan, Steel Ships & Iron Man, Belfast, 1989
8 William J. Oldham, The Ismay Line, London, 1961