„Und was machen wir mit der Oceanic?“
von Susanne Störmer
Liverpool, 3. April 1912. Am Tag zuvor hatte die Titanic ihre Probefahrt in nordirischen Gewässern erfolgreich abgeschlossen und jetzt befand sie sich auf dem Weg nach Southampton. Der Jungfernfahrt am 10. April 1912 stand nun vermutlich nichts mehr im Wege, auch wenn der Zeitplan sportlich sein würde.
An diesem 3. April 1912 verließ die Olympic Southampton zu einer weiteren Rundreise, allerdings unter einem neuen Kapitän und mit neuen Schiffsärzten sowie anderen neuen Besatzungsmitgliedern, denn ein Teil der Crew war auf die Titanic transferiert worden.
Bei der White Star Line konnte man zufrieden sein. Die Olympic war vom Publikum ausgesprochen gut angenommen worden, und nichts sprach dagegen, dass die Titanic die Erfolgsgeschichte der Olympic-Klasse fortschreiben würde. Mit der Indienststellung der Titanic konnte man zudem die Qualität der Schiffe auf der Southampton-New York-Route eindeutig anheben, denn die in die Jahre gekommene Majestic konnte nun endlich von der Prestigeroute abgezogen werden, auf die Unterstützung der Red Star Line, von der man sich gelegentlich Schiffe geliehen hatte, war man ebenfalls nicht mehr angewiesen, und die Olympic hatte im Jahr zuvor bereits die Teutonic ersetzt, was für eine Verjüngung der Flotte gesorgt hatte.
Diese Verjüngung war auch dringend erforderlich gewesen, da sich die Passagierschiffe seit Indienststellung der Majestic und Teutonic vor mehr als 20 Jahrendeutlich weiter entwickelt hatten – sowohl was Größe als auch was Komfort anging. Die wenigen loyalen Passagiere, über die Majestic und Teutonic zuletzt noch verfügt hatten, reichten nicht mehr aus, um die Passagierzahlen der White Star Line positiv zu beeinflussen. Denn deutlich mehr Reisende bevorzugten die moderneren Schiffe, die auf dem Nordatlantik fuhren – und viele davon waren bei den Konkurrenten in den Flotten zu finden. Die Olympic jedoch hatte das Blatt für die White Star Line deutlich gewendet und gezeigt, dass das Risiko, das man mit dem ohne staatliche Unterstützung finanzierten Bau dieser Riesenschiffe eingegangen war, sich vermutlich auszahlen würde.
Mit Beginn der Sommersaison 1912 würden dann also Olympic, Titanic und Oceanic den Premiumdienst der Reederei ab Southampton bedienen. Das war insofern wichtig, als dass das Passagiergeschäft auf dem Nordatlantik ein Saisongeschäft war. Der Löwenanteil vom Umsatz wurde in den Monaten Mai – Oktober gemacht und die Einnahmen in diesem Zeitraum mussten hoch genug sein, um die anderen Monate, in denen aufgrund der Postverträge ebenfalls wöchentliche Abfahrten angeboten werden mussten, zu subventionieren, denn die Posteinnahmen alleine reichten nicht aus, um alle Kosten des Winterhalbjahres zu decken. Außerdem sollte natürlich in der Endabrechnung noch ein Gewinn übrig bleiben.
Nicht zu unterschätzen war auch der Einfluss, den die Postbeförderungsverträge auf den Schiffbau gehabt hatten. Um an diese Verträge, die immerhin eine zuverlässige Einnahmequelle darstellten, zu kommen, mussten die Schiffe, die sich „Postschiffe“ nennen durften, von der Post festgelegte Mindeststandards erfüllen. Da die Post damals staatlich war, war die Bezeichnung „Royal Mail Steamer“ oder auch „US Mail Steamer“ oder welche Bezeichnung auch immer die staatliche Post trug ein Gütesiegel.
Die Monate Mai bis Oktober waren also für das Geschäftsergebnis ganz entscheidend, und mit der Indienststellung im April war die Titanic rechtzeitig für die Hauptsaison auf dem Atlantik verfügbar. Auf der Reise nach New York war sie noch nicht ausgebucht, aber der Monat April zählte noch zur Nebensaison, von daher war mit Sicherheit niemand beunruhigt. Und nach dem Erfolg der Olympic im Jahr 1911 war man sich ganz sicher, dass auch die Titanic für die White Star Line in der Hauptsaison Marktanteile erobern würde.
Dass der Marktanteil der Reederei im Passagiergeschäft eine Steigerung gut vertragen konnte, war klar. Und für die Hauptsaison 1912 sah sich die Reederei vermutlich auch abseits des Southampton – New York – Dienst gut aufgestellt:
- Auf der traditionellen Liverpool – New York – Route waren die so genannten Big Four im Einsatz, also die Celtic, Cedric, Baltic und Adriatic; von denen hatte die Celtic Anfang des 20. Jahrhunderts Maßstäbe in Größe und Reisekomfort gesetzt
- Liverpool – Boston fuhren Cymric und Arabic
- nach Kanada, dem möglicherweise neuen Passagierdienstmarkt auf dem Nordatlantik, standen mit Laurentic und Megantic zwei junge Schiffe zur Verfügung
- nach Australien eingesetzt wurde die Jubilee-Klasse, die aus den Schiffen Afric, Medic, Persic, Runic und Suevic bestand
… und in Belfast entstand das dritte Schiff der Olympic-Klasse. Wenn dieses Schiff in Dienst gestellt werden würde, wäre die White Star Line die erste Reederei, die wöchentliche Abfahrten mit neuen Riesenlinern anbieten konnte.
Die Konkurrenten waren noch nicht ganz so weit. Die Cunard Line setzte auf ihre Schnelldampfer Lusitania und Mauretania, musste aber immer noch ein drittes Schiff einschieben, um einen wöchentlichen Dienst sicherstellen zu können. Ab 1914 würde dieses dritte Schiff wohl die Aquitania werden – die allerdings ohne Geschwister fuhr, so dass die Cunard weiterhin mit verschiedenen Schiffen auf der Premium-Route agierte. Wenn Reisende einen bestimmten Standard wollten, mussten sie in diesem Fall genau auf die Fahrpläne schauen. Wer aber eine wöchentliche Abfahrt mit einer Schiffsklasse anbieten konnte, bot den Reisenden auch einen wöchentlich gleich bleibenden Standard. Diesen Standard hatten weder Cunard noch die White Star Line in den vergangenen Jahren bieten können.
Die anderen beiden großen Spieler im nordatlantischen Passagiermarkt waren der Norddeutsche Lloyd und die Hamburg-Amerika-Linie (HAL) aus Deutschland. Der Norddeutsche Lloyd hatte für die aktuelle Situation und Entwicklung noch keine klare Strategie – aber er verfügte über die mittlerweile in die Jahre gekommenen Schnelldampfer der Kaiser-Wilhelm-der-Große-Klasse, die noch von ihrem mittlerweile vergangenem Ruhm zehrten, auch wenn sie als „The Four Flyers“ beworben wurden. Allerdings hatte der Norddeutsche Lloyd es geschafft, sich einen ganz besonderen Ruf für Service aufzubauen und hatte dadurch loyale Passagiere gewinnen können. Und „The Four Flyers“ boten einen wöchentlich unveränderten Standard in bester Tradition der Vorgänger-Schnelldampfer der Flüsse-Klasse.
Die HAL hatte drei Riesendampfer im Bau, die ab 1914 in Dienst gestellt werden würden. Damit stand zu erwarten, dass die HAL ab 1914 wieder ganz vorne mitspielen würde, denn der transatlantische Passagierverkehrsmarkt war nicht nur durch den Auswandererdienst gekennzeichnet, sondern auch durch die betuchten Reisenden – und für die Amerikaner unter ihnen war es ein Muss, mit den neuesten Schiffen gefahren zu sein. Damit hatten neue Schiffe immer einen Bonus, der genau so lange hielt, bis das nächste große Schiff in Dienst gestellt wurde.
Außerdem durfte man gespannt sein, was sich die HAL für die Imperator-Klasse hatte einfallen lassen, denn im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte die HAL es geschafft, mit Innovationen genau den Geschmack der Reisenden in der 1. Klasse zu treffen. Die HAL wurde von der britischen Presse sogar der Cunard Line und der WSL als Beispiel vorgehalten.
Die White Star Line war die Reederei der „großen Vier“, die den geringsten Marktanteil im transatlantischen Passagierverkehrsmarkt hatte – aber 1911 hatte sie gegen den Trend beim Marktanteil zulegen können, obwohl die Passagierzahlen rückläufig waren. Im Jahresbericht schob der Norddeutsche Lloyd die Schwäche des Passagierverkehrsmarktes auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA, die – nach den Beobachtungen des Norddeutschen Lloyd – im Vorfeld immer eine Rezession zur Folge hatten. Diese Rezession wirkte sich auch auf den Auswandererverkehr aus, denn wenn die USA weniger Arbeitskräfte benötigte, mussten die Reedereien auch weniger Auswanderer befördern. Die Rückwanderungswelle war nie in der Lage gewesen, die ausbleibenden Auswanderer aufzufangen.
Generell war das Transportgeschäft auf dem Nordatlantik mehr ein One-Way-Business. Das Passagieraufkommen westwärts machte rund zwei Drittel des Gesamtpassagieraufkommens aus. Allerdings zeigten die Passagierzahlen ostwärts seit Jahren aufsteigende Tendenz. Und: Der Passagierverkehr in der 2. Klasse nahm zu. Auf diesen Trend jedoch waren die älteren Schiffe, auf denen bisher die 2. Klasse sträflich vernachlässigt worden war, überhaupt nicht vorbereitet. Die Olympic-Klasse allerdings hatte eine veränderte Relation der Passagierbetten in den einzelnen Klassen – 1. und 2. Klasse waren auf Kosten der 3. Klasse gestärkt worden.
Ein unternehmerisches Wagnis? Waren es nicht die Passagiere der 3. Klasse, die Passagen in der 1. und 2. Klasse subventionierten? – Das galt vielleicht noch für Schiffe wie Majestic und Teutonic, aber die Welt hatte sich verändert. Eine sich international mehr und mehr vernetzende Wirtschaft, für die es kaum noch Handelsbeschränkungen gab, hatte für steigenden Wohlstand gesorgt. Immer mehr Menschen reisten, und das waren nicht nur Geschäftsreisen; auch Vergnügungsreisen lagen im Trend. Und mit steigendem Wohlstand stiegen auch die Ansprüche der Passagiere, die ihre alte Heimat besuchen wollten oder als Saisonarbeiter den Sommer über in den USA arbeiteten und den Winter in ihrer Heimat in Europa verbrachten. Der transatlantische Passagierverkehrsmarkt begann sich zu verändern, und die White Star Line hatte ihre Olympic-Klasse an die neuen Trends angepasst.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich für britische Reedereien zudem die Bedingungen im Auswanderergeschäft verändert. Die Atlantic-Conference, ein von Albert Ballin initiiertes Kartell von Reedereien, hatte das Ziel, Bedingungen zu schaffen, die allen Reedereien eine Existenz ermöglichten und Preiskämpfe verhinderten. Dafür war der Auswanderermarkt aufgeteilt worden. Es gab Quoten für die Beförderung von Auswanderern, die bei Überschreiten zu Strafzahlungen führten. Und es gab Mindestfahrpreise für die 2. und 1. Klasse. Die Mindestfahrpreise richteten sich nach Alter und Ausstattung des Schiffes; und einer, der bei den Verhandlungen zur Festlegung der Mindestpreise dabei war, berichtete von der skurrilen Szene, in der Reeder ihre Schiffe, die sie in der Werbung in den höchsten Tönen lobten, bei diesen Verhandlungen schlecht zu reden versuchten, um den Mindestpreis nach unten zu drücken. – Für die Kunden in der 1. und 2. Klasse bedeutete diese Situation, dass einerseits zwar Preiskämpfe und damit Billigangebote ausgeschlossen waren, aber da der Konkurrenzdruck trotz allem groß war, mussten die Anbieter andere Argumente für ihre Schiffe schaffen, also z. B. besonderen Komfort oder spezielle Serviceleistungen.
Im Auswanderermarkt war die Situation anders. Der Markt war nach Regionen zwischen den Reedereien, die an der Atlantic Conference teilnahmen, aufgeteilt worden. Den britischen Reedereien waren beim Auswandererverkehr die skandinavischen Länder und Großbritannien inklusive Irland zugefallen. Hier allerdings waren mit Beginn des 20. Jahrhunderts die Auswandererzahlen drastisch gesunken. Diese Entwicklung stand im Gegensatz zu der Auswanderung aus Osteuropa und dem Mittelmeerraum, wo es deutliche Zuwachsraten gegeben hatte. Dieses Geschäft aber hatten sich die deutschen Reedereien gesichert. Nur mit Hilfe einer scharfen Auseinandersetzung war es den britischen Reedereien gelungen, einen Anteil am Mittelmeerdienst zu bekommen, wobei es die White Star Line nie geschafft hatte, im dortigen Dienst richtig Fuß zu fassen. Passagierzahlen und Marktanteil der White Star Line im Mittelmeerdienst nach New York lagen deutlich unter denen der Konkurrenten, wobei die deutschen Reedereien generell durch die Abmachungen auf der Atlantic Conference und die Entwicklung der Auswanderung aus Europa die besseren Karten in diesem Geschäft hatten.
Und auch hier gab es Reaktionen auf die veränderten Marktbedingungen: Die Imperator-Klasse der HAL würde sogar eine 4. Klasse bekommen. Denn während Auswanderer aus den westlichen und nördlichen Staaten Europas bereits einen gewissen Komfort erwarteten, der sich in den gestiegenen Standards in der 3. Klasse der modernen Passagierschiffe zeigte, konnte man den Auswanderern aus den östlichen und südlichen Staaten Europas und dem Nahen Osten weniger Komfort anbieten und wurde die Plätze dennoch los.
Die Passagierzahlen der White Star Line zeigten eindeutig, dass die Auswanderer andere Reedereien bevorzugten, aber man war stark im Segment der 1. Klasse Passagiere, und im Segment der Passagiere der 2. Klasse gab es bei den vier großen Reedereien keine nennenswerten Unterschiede. Angesichts der Entwicklung der Auswandererzahlen in den Ländern, die den britischen Reedereien zugeordnet waren und angesichts der Möglichkeiten, die in den Segmenten der 1. und 2. Klasse Passagiere lagen, war es ein logischer Schritt, diese Klassen auf den Schiffen der Olympic-Klasse zu stärken. Denn ein weiteres Risiko schwebte im Raum: Die Begrenzung der Einwanderung durch die USA.
Dann wartete zwar Kanada als neues Einwanderungsland, aber die Schiffe waren auf den Nordatlantikdienst nach New York zugeschnitten – das Prestige dieser Route würden sich andere Strecken erst aufbauen müssen.
Und die White Star Line hatte Probleme auf dem Nordatlantik. Betrachtete man den Zeitraum 1908 – 1911 zeigte sich deutlich, dass die Auslastung der Schiffe zu niedrig, das Flottenalter recht hoch und der Marktanteil für die eingesetzte Tonnage zu gering war.
Auch die HAL hatte das Problem mit der zu geringen Auslastung der eingesetzten Tonnage erkannt und Albert Ballin arbeitete daran, über die Atlantic Conference eine Abwrackprämie für ältere Schiffe zu erreichen, um dadurch die eingesetzte Tonnage zu reduzieren, eine bessere Auslastung zu erreichen und auch höhere Einnahmen zu erzielen, denn die neueren Schiffe waren in der Mindestpreistabelle höher eingestuft als die älteren Schiffe. Die Passagiere würden zwar mehr Geld für eine Überfahrt ausgeben müssen, würden dafür aber auf neueren Schiffen fahren können – und die Passagierzahlen kannten seit 1900 fast nur den Weg nach oben. Damit stand zu erwarten, dass die Margen der Reedereien steigen würden, wenn die Überkapazitäten verringert werden würden. Natürlich würde es immer die Monate November – April geben, in denen die Auslastung generell niedrig war, aber umso wichtiger war es, die Auslastung im Sommer zu steigern. Da die Reiselust von der wirtschaftlichen Lage abhängig war, war es auf jeden Fall sinnvoll, die Überkapazitäten zu beseitigen – dann schleppte man in der Rezession weniger Ballast mit sich herum und konnte in nachfragestarken Jahren die Preise nach oben schrauben.
Allerdings gelang es Ballin nicht, für die Idee mit den Abwrackprämien eine Mehrheit in der Atlantic Conference zu finden. Dementsprechend würde es weiterhin eine bunte Mischung an Schiffen und ein Überangebot auf dem Nordatlantik geben – selbst auf einer Route einer Reederei wies das Angebot eine große Streubreite auf. Das war nicht immer so gewesen.
Die Anfänge der White Star Line auf dem Nordatlantik hatten einen Fahrplan mit einer identischen Schiffsklasse gesehen. Diese Flotte war nach und nach ergänzt worden und dementsprechend bunt gemischt waren die Fahrzeuge gewesen. Wenn der Fokus auf dem Segment der 3. Klasse Passagiere lag, war die Uneinheitlichkeit des Angebots zweitrangig, da es durch die Atlantic Conference die Quotenregelung gab und weitere Bestimmungen die Wahlmöglichkeiten der Reisenden in der 3. Klasse bezüglich des gewünschten Schiffes stark einschränkten. Man buchte bei der Auswanderung eine Reederei.
Wer allerdings den Fokus auf die 1. und die 2. Klasse legte, hatte andere Möglichkeiten. Denn hier griff die Quotenregelung nicht – und die Mindestpreisregelung besagte nur, welcher Preis mindestens für eine Überfahrt verlangt werden durfte. Diese Bestimmung sollte ruinöse Preiskämpfe verhindern. Es stand den Reedereien aber frei, jederzeit mehr für eine Passage zu verlangen. Allerdings buchten diese Reisenden keine Reederei, sondern ein bestimmtes Schiff. Wenn es also gelang, eine Loyalität der Passagiere zu einer Reederei herzustellen, dann war es sinnvoll, ein wöchentlich gleich bleibendes Angebot zu haben. Das konnte nur erreicht werden, indem jede Woche ein Schiff einer Schiffsklasse eine Abfahrt anbot. Für die White Star Line bedeutete das: Im Australiendienst war durch die Jubilee-Klasse diese Homogenität des Angebots gegeben. Auf dem Nordatlantik, der wichtigsten Route für eine Reederei, die im Konzert der Großen mitspielen wollte, dagegen sah es anders aus. Ein Blick auf die Jahre 1907 – 1911 zeigt das Problem:
Im „Expressdienst“ ab Southampton fuhren:
- Adriatic (Baujahr 1907, eine der Big Four)
- Oceanic (Baujahr 1899, keine Schwesterschiffe)
- Teutonic (Baujahr 1899, Schwesterschiff Majestic)
- Majestic (Baujahr 1890, Schwesterschiff Teutonic).
Die Teutonic und Majestic waren als klassische Auswandererschiffe mit Schnelldampferambitionen gebaut worden. Das aber spiegelte schon seit mehreren Jahren weder den Bedarf noch die Positionierung der White Star Line im Markt wider.
Ab Liverpool im Nordatlantikdienst nach New York und Boston im Einsatz waren
- Celtic (Baujahr 1901, älteste der Big Four)
- Cedric (Baujahr 1903, ein weiteres Schiff der Big Four)
- Baltic (Baujahr 1904, das dritte Schiff der Big Four)
- Arabic (Baujahr 1903, keine Schwesterschiffe bei der WSL)
- Cymric (Baujahr 1898, keine Schwesterschiffe)
Die Celtic und Cedric waren noch ganz klar als Auswandererschiffe konzipiert – viel Platz in der 3. Klasse und dazu dann noch 1. und 2. Klasse, wobei die 2. Klasse das geringste Angebot an Unterkünften hatte. Bei der Baltic hatte man bereits die 3. Klasse reduziert und dafür das Angebot in der 1. und 2. Klasse erhöht. Die Arabic hatte nicht mal 50% der Kapazität der Celtic, Cedric und Baltic in der 3. Klasse, auch weniger Angebot in der 1. Klasse, aber dafür mehr Betten in der 2. Klasse. Auf der Cymric konnten nur Passagen in der 1. und in der 3. Klasse angeboten werden, und damit fehlte die Klasse, deren Anteil im 20. Jahrhundert so deutlich gestiegen war.
Mit Indienststellung der Olympic veränderte sich die Ausgangslage etwas. Den Liverpool-New York-Dienst versahen nun die Big Four, wobei die Adriatic deutlich besser ausgestattet war als ihre drei Schwestern, die eher nur ihre Halbschwestern waren. Aber zumindest für den Liverpool-New York-Dienst galt nun, dass den Passagieren eine wöchentliche Abfahrt auf einer Schiffsklasse angeboten werden konnte, auch wenn die Adriatic dabei herausragte, da sie Komfortmerkmale aufwies, die eigentlich der Olympic-Klasse zugeschrieben wurden, wie z. B. ein Swimming-Pool an Bord.
Zumindest wussten die Passagiere: Wenn sie White Star Line ab Liverpool nach New York buchten, machten sie die Passage auf einem Schiff der Big Four.
Doch der Southampton-Dienst war ab Sommer 1911 weiterhin uneinheitlich:
Die Olympic war eine Klasse für sich.
Dazu gesellte sich die Oceanic, die immer schon Einzelgängerin gewesen war.
Und zumindest 1911 komplettierte noch die Majestic die Flotte. Aber die Majestic war bereits über 20 Jahre im harten Nordatlantikdienst und damit eines der ältesten Schiffe der White Star Line überhaupt.
Die Dramatik dieser Flottensituation wird besonders daran deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Olympic auf ihren sechs Fahrten deutlich mehr Passagiere beförderte als die White Star Line im Durchschnitt erreichte. Und dabei hat die Olympic noch eine Fahrt ausfallen lassen müssen, auf der sie komplett ausgebucht war: Die Rundreise im September, die durch die Kollision mit der Hawke beendet wurde, hätte ihre Zahlen noch weiter verbessert. Doch wenn die Olympic schon so überragende Zahlen lieferte, ist selbst ohne Einzelzahlen für die anderen Schiffe klar, wie wenig Zuspruch diese Schiffe gefunden haben müssen.
Für die White Star Line kam die Indienststellung der Olympic gerade zur rechten Zeit und die Entscheidung, auf Bewährtes zu setzen und als Innovation allein auf die Größe des Schiffes zu vertrauen, war ganz offensichtlich richtig gewesen. Denn die Olympic hatte nichts, was es nicht auch auf anderen Schiffen – und sei es bei der Konkurrenz – bereits gab. Aber alles auf ihr war ganz einfach größer und entsprach damit dem Zeitgeist.
Mit der Indienststellung der Titanic würde sich das Bild im Southampton-New York-Dienst dann weiter verändern. Olympic und Titanic waren eine Schiffsklasse und entsprachen den modernsten Standards. Die Oceanic komplettierte die Flotte, würde diesen Platz aber räumen müssen, sobald das dritte Schiff der Olympic-Klasse in Dienst gestellt werden würde.
Und wohin dann mit der Oceanic? Sie könnte noch gut einige Jahre für die Reederei Geld verdienen, aber im Southampton-Fahrplan war kein Platz für sie, und zu den Big Four passte sie auch nicht so richtig. Außerdem: Lord Pirrie in Belfast phantasierte bereits von Schiffen mit mehr als 100.000BRT.
Mit der Olympic-Klasse war der Bauboom mit Sicherheit noch nicht vorbei. Die Big Four würden ab 1920 nach und nach ersetzt werden müssen (20 Jahre war die magische Grenze für Ozeanliner bei den großen Reedereien, dass Majestic und Teutonic länger imDienst geblieben sind, ist ein Anzeichen dafür, dass der Flottenaustausch bei der WSL zuletzt ins Stocken geraten war; 1909 und 1910 wären Teutonic und Majestic bei normalem Lauf der Dinge „dran“ gewesen) – und auch die Konkurrenz rüstete auf.
Die Imperator-Klasse der HAL würde der Olympic-Klasse genauso Passagiere streitig machen wie die Aquitania der Cunard, wobei die Cunard im Gegensatz zur White Star Line und HAL keine wöchentliche Abfahrt mit einem Schiff einer Klasse anbieten konnte. Und auch der Norddeutsche Lloyd würde auf die Veränderungen reagieren müssen. Also war zu erwarten, dass spätestens ab etwa 1920 die White Star Line eine neue Schiffsklasse für den Southampton-New York- Dienst in Dienst stellen würde und die Olympic-Klasse dann nach und nach in den Liverpool-New York-Dienst verschoben werden würde und dabei die Big Four ersetzen. Was aber sollte bis dahin mit der Oceanic geschehen?
Ein neuer Trend waren Kreuzfahrten. Vielleicht ließe sie sich dafür verwenden. Immerhin hatte die Oceanic sich einen guten Ruf aufbauen können und sie hatte ihre Anhänger. Oder sie würde neues Reserveschiff werden, dann hätte man immer ein Schiff, das sowohl die Olympic-Klasse als auch die Big Four bei Bedarf ergänzen bzw. ersetzen könnte.
Mit dem 15. April 1912 jedoch änderten sich die Voraussetzungen für weitere Flottenplanungen fundamental. Nicht nur, dass im Express-Dienst das uneinheitliche Bild des Jahres 1911 seine Fortsetzung fand – der Ruf der Olympic war durch den Untergang der Titanic in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie war nicht mehr „das neue Schiff“, sondern „das Schwesterschiff der gesunkenen Titanic„. Und die Titanic stellte die bis dahin größte Tragödie in der Seeschifffahrt dar. Da es Alternativen gab und die Schifffahrt über den Atlantik auch etwas mit Vertrauen in die Reederei zu tun hatte, war die Situation für die WSL ausgesprochen unangenehm.
Möglicherweise ist die Olympic-Klasse mit der Titanic untergegangen. Das dritte Schiff der Baureihe erhielt den neutralen Namen Britannic, und ein Ersatzbau für die Titanic war erstmal nicht geplant. Vielleicht würde es eine neue Oceanic geben, die sich ohne weiteres Schwesterschiff zu Olympic und Britannic gesellen könnte und die dann alte Oceanic ablösen; dann würde man quasi das Cunard-Modell kopieren mit zwei Schiffen einer Baureihe und einem dritten Schiff dazu.
Aber noch ehe die Britannic in Dienst gestellt werden konnte, kam der Sommer 1914, der in den 1. Weltkrieg mündete. Der 1. Weltkrieg wurde ein Trauma für eine ganze Generation, und auch der Passagierverkehr auf dem Nordatlantik wurde davon schwer berührt. Jegliche vorausschauenden Planungen aller auf dem Nordatlantik im Wettbewerb stehenden Reedereien müssen durch die kriegerischen Ereignisse der Jahre 1914 – 1918 überholt worden sein.
Die White Star Line hatte zahlreiche Schiffsverluste zu beklagen, unter anderem die Oceanic, Britannic und die Arabic, und schaffte es bis zu ihrem Zusammenschluss mit der Cunard Line nicht mehr, ihren Expressdienst aus Southampton mit Schiffen einer Schiffsklasse anzubieten; es blieb bei dem Sammelsurium an Schiffen verschiedenster Klassen. So nah dran an einem einheitlichen Angebot auf einer Strecke wie in der Zeit vom 3. bis 15. April 1912 war die White Star Line nie wieder.
© Susanne Störmer, 2009
Erstveröffentlichung: Deutscher Titanic-Verein von 1997 e. V., Der Navigator Nr. 4, 12. Jahrgang (Februar 2009)