Verwaltung eines Mangels

Die Evakuierung der Titanic

Von Susanne Störmer

 

Wie verteilt man 2208 Menschen auf 1178 Plätze? Vor dieser Aufgabe stand die Schiffsführung der Titanic in der Nacht zum 15. April 1912. Erschwerend kam noch hinzu, dass vier der Rettungsboote mit Platz für 188 Personen „Faltboote“ waren, die aus einem hölzernen Boden und Seiten aus Segeltuch bestanden. Die Seitenwände mussten aufgestellt werden, ehe diese Boote von den Davits der Notfallboote 1 und 2 zu Wasser gelassen werden konnten. Und ob Boote dieser Bauart dem oftmals rauen Nordatlantik lange Widerstand würden leisten können?

Zudem waren zwei dieser Faltboote auf dem Dach der Offiziersquartiere verstaut und waren damit ein ganzes Stück von den Davits entfernt. Diese beiden Boote konnten nicht mehr flott gemacht werden und trieben letztendlich davon, konnten allerdings für einige Menschen als eine Art von Flößen dienen – eines der Boote trieb kieloben, das andere war halb geflutet.

Weitere Unbekannte für die Lösung der Aufgabe waren, wie viele der Boote der Titanic überhaupt beladen und gefiert werden konnten und wann ein anderes Schiff oder sogar andere Schiffe vor Ort eintreffen würden.

Am Ende waren es 1084 Plätze in Rettungsbooten, die noch ordnungsgemäß gefiert wurden, für die 2208 Menschen auf der Titanic. Doch das war zu Beginn der Evakuierung natürlich noch gar nicht bekannt.

Am Anfang war die Hoffnung

Als die Titanic mit dem Eisberg kollidiert war, musste ermittelt werden, welchen Schaden die Titanic davongetragen hatte und welche Auswirkungen dieser Schaden hatte. Direkt nach der Kollision ging mit Sicherheit niemand auf dem Schiff davon aus, dass die Titanic sinken würde. Man befand sich auf einem Schiff, das als „unsinkbar“ beworben wurde [1]. Und der 4. Offizier Boxhall stellte auf einem ersten Inspektionsgang keinerlei Beschädigungen fest! Allerdings gab es auch andere Meldungen, die von Wassereinbrüchen berichteten. Nun stellte sich natürlich die Frage, inwieweit die Schottenkammern den Wassereinbruch würden begrenzen können – die Titanic war schließlich das größte und neueste Schiff der Welt. Dennoch legen Beobachtungen von Überlebenden nahe, dass der Befehl, die Rettungsboote klar zu machen, bereits gegeben wurde, als Informationen vorlagen, dass die Titanic im Vorschiff viel Wasser machte. Offenbar rechnete man bereits damit, Passagiere von Bord bringen zu müssen. Doch wann würde das sein? Wenn ein anderes Schiff vor Ort war und die Passagiere und an Bord nicht mehr benötigte Besatzungsmitglieder in Empfang nehmen konnte?

Die Ermittlung der Auswirkungen der Beschädigungen liefen derweil weiter – ohne Hilfe von Computern oder wenigstens Taschenrechnern sowie anderen modernen Mitteln. Man musste wissen, wo überall Wasser eindrang und bis zu welcher Höhe es bis zu welchem Zeitpunkt gestiegen war, um auf dieser Basis das Ausmaß berechnen zu können. Das war keine Aufgabe, die innerhalb von Sekunden erledigt war, sondern sie benötigte Zeit. Denn auch die benötigten Informationen mussten zusammengetragen werden, was ohne Smartphone oder zumindest Walkie-Talkies deutlich schwerer war. Auf der Kommandobrücke liefen die Informationen zusammen, und üblicherweise wurden sie von Boten persönlich überbracht. Einer dieser Boten war Chefingenieur Bell, der gegenüber Joseph Bruce Ismay noch optimistisch war, dass die Pumpen den Wassereinbruch würden beherrschen können. Was aus heutiger Sicht wie eine klassische Fehleinschätzung wirkt, mag damals auch der Informationslage geschuldet sein.

Auch der Notruf wurde noch nicht sofort nach der Kollision abgesetzt – da der Zeitunterschied zwischen Schiffszeit Titanic und New York Zeit zwei Stunden zwei Minuten betrug [2], lässt sich der Zeitpunkt des ersten empfangenen Notrufs, der in New York Zeit festgehalten wurde, auf 00:27 Uhr Schiffszeit Titanic umrechnen. Um 00:27 Uhr Schiffszeit Titanic muss also klar gewesen sein, dass die Titanic so schwer beschädigt ist, dass sie ihre Fahrt nie mehr fortsetzen kann und andere Schiffe die Menschen und die Post von Bord übernehmen müssen. Für den Notruf ist die Notrufposition erforderlich. Damals gab es noch kein GPS, über das auf Knopfdruck die genaue Position ermittelt werden konnte. Die Nautiker mussten selbst rechnen. In diesem Fall war es vermutlich Kapitän Smith, der die letzte Position gekoppelt hat, die kurz darauf vom 4. Offizier Boxhall nach erneuten Berechnungen korrigiert wurde [3].

Diese beiden Berechnungen spiegeln sich in den dokumentierten Notrufen der Titanic wider. Doch die ersten Notrufe beinhalten auch noch eine interessante Randnotiz: Der Funker der Titanic meldete in seinen Notrufen, dass er wegen dem Dampf, der abgelassen wurde, die anderen Stationen nicht hören konnte. Damit wusste man auf der Titanic anfangs auch nicht, ob der Notruf überhaupt gehört wurde.

Der Lärm vom abgelassenen Dampf muss infernalisch gewesen sein, sowohl an Deck als auch in den Innenräumen zu hören. Doch nicht alle Überlebenden erwähnen diesen Lärm. Einige berichten von mehr oder wenigen normalen Unterhaltungen, die laut anderen Überlebenden wegen dem abgelassenen Dampf unmöglich gewesen sein sollen. Doch vielleicht gibt es hierfür auch eine Erklärung:

Die Titanic war bis zur Kollision mit dem Eisberg mit voller Fahrt voraus und sogar schneller als jemals zuvor gefahren [3]. Nach der Kollision mit dem Eisberg wurde abgestoppt, um den Schaden festzustellen. Die Kohle unter den Kesseln glüht natürlich weiter, also wird weiter Dampf erzeugt, der nun aber nicht mehr abgerufen wird. Dadurch steigt der Druck im Dampfkreislauf weiter, bis eine kritische Grenze erreicht wird, die dazu führt, dass Dampf abgelassen wird. Da man anfangs noch den Schaden ermittelt, wird vermutlich erstmal immer nur so viel Dampf abgelassen worden sein, bis der Druck wieder in einem normalen Bereich liegt – das heißt, das Dampf Ablassen wird nicht durchgängig erfolgt sein. Man wusste ja nicht, ob man die Fahrt nicht doch noch weiter fortsetzen kann und den Dampf dafür benötigt. Doch dann wird klar, dass die Titanic eben nicht mehr weiterfahren kann und auch niemals mehr weiterfahren wird. Spätestens jetzt wird den Stewards der Befehl erteilt, die Passagiere zu informieren, mit angelegten Schwimmwesten an Deck zu kommen. Die letzte Position der Titanic wird ermittelt und den Funkern der Befehl erteilt, den Notruf abzusetzen – und im Maschinenraum fährt man die Kessel so weit herunter, dass nur noch die Generatoren Strom für die Beleuchtung und die Funkstation erzeugen. Der übrige Dampf wird abgelassen. Das dauert bis etwa 00:45 Uhr Schiffszeit, wie sich anhand der dokumentierten Notrufe der Titanic und von Aussagen Überlebender nachvollziehen lässt.

Die Kommunikation

Ein wichtiges Element bei einer Evakuierung ist die Kommunikation. Allerdings gab es auf der Titanic noch kein Lautsprechersystem oder eine andere zentrale Form der Alarmierung. Besatzungsmitglieder wie Passagiere mussten persönlich informiert werden. Bei den Seemännern gab es den Befehl „Alle Mann an Deck“, der bedeutete, dass auch die Freiwache angefordert wurde – das war ein Indiz dafür, dass etwas im Argen war, denn normalerweise wurde immer nur die jeweilige Wache für Arbeiten herangezogen. Der Befehl „Alle Mann an Deck“ wurde nur in Notlagen gegeben. – Auf Segelschiffen, auf denen viele Seeleute noch gelernt hatten, wurden Manöver, die die komplette Besatzung erforderten, üblicherweise bei Wachwechseln vorgenommen, wenn sowieso beide Wachen an Deck waren. Nur wenn eine Situation falsch eingeschätzt oder ein Wetterumschwung nicht vorhergesehen worden war, wurde die Freiwache zusätzlich zur Wache wieder an Deck gerufen.

Auch die Stewards wurden alarmiert – über die normale Befehlskette. Der Nachtdienst alleine reichte in dieser Situation nicht mehr aus, da mussten auch die Stewards und Stewardessen, die Freiwache hatten, wieder mit antreten. Bei dieser Form der Alarmierung war der große Nachteil, dass nach der Kollision mit dem Eisberg viele Besatzungsmitglieder sich auf eigene Faust umgeschaut hatten und dadurch auf dem Schiff verteilt waren. So wurden nicht alle zur gleichen Zeit erreicht. Die Kabinenstewards hatten eine bedeutende Rolle bei der Alarmierung der Passagiere: Von ihnen wurde erwartet, dass sie die Passagiere in den Kabinen, die sie betreuten, darüber informierten, dass sie mit angelegten Schwimmwesten an Deck kommen sollten. Besonders aus der 1. Klasse ist überliefert, dass die Stewards den Passagieren auch beim Ankleiden behilflich waren. – Für die Passagiere hing die Alarmierung damit auch davon ab, wie schnell ihr Kabinensteward gefunden worden war und wie gut die Informationen waren, die er bei der Alarmierung erhalten hatte.

Die Passagiere sollten sich mit angelegten Schwimmwesten an Deck einfinden. Die Passagiere der 1. und 2. Klasse hatten das Bootsdeck, an dem sich auch Rettungsboote befanden – die 1. Klasse im vorderen Bereich, die 2. Klasse im hinteren Bereich. Die offenen Deckbereiche der 3. Klasse jedoch waren vorne (D-Deck) und achtern (C-Deck), wo keine Rettungsboote waren. Und damit stellt sich die Frage: Waren etwa keine Rettungsboote für die Passagiere der 3. Klasse vorgesehen?

Die Rettungsboote befanden sich auf dem Bootsdeck im Bereich der Offizierspromenade (Boote 1, 2, 3 und 4), im Bereich der 1. Klasse-Promenade (Boote 5, 6, 7 und 8) sowie bei der Promenade der 2. Klasse (Boote 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15 und 16). Sowohl backbord wie auch steuerbord wurden zuerst die vorderen Boote beladen, an steuerbord alle vier Boote, an backbord zuerst nur die Boote 6 und 8. An steuerbord wurden die ersten Rettungsboote zu Wasser gelassen, und entsprechend dem Promenadenbereich waren Passagiere aus der 1. Klasse in den Booten und Besatzungsmitglieder. Die Boote 7 und 5 (in der Reihenfolge des Fierens) erhielten jeweils den Befehl, sich im Bereich des hinteren Gangwayluks aufzuhalten. Das ist ein Indiz dafür, dass es den Plan gab, diese Boote weiter zu befüllen, wenn sie auf dem Wasser waren – vom Gangwayluk aus nämlich. Von dort wäre man über eine Jakobsleiter – eine Art Strickleiter – ins Boot gekommen. Das ist keine einfache Methode, um in ein Rettungsboot zu gehen, doch offensichtlich traute man es damals den Menschen zu, eine schwankende Strickleiter an einer Schiffswand herunter zu klettern. Und welchen Menschen wäre es gewesen, die diesen Weg in die Boote nehmen sollten? – Es drängt sich die Vermutung auf, dass vorgesehen war, Passagieren aus der 3. Klasse sowie vielleicht auch Besatzungsmitgliedern auf diesem Weg Zugang zu den Booten zu verschaffen.

Das zweigeteilte Beladen der Boote – ein Teil vom Bootsdeck aus, ein anderer Teil von den Gangwayluks aus – hatte auch einen weiteren Vorteil: Das Bootsdeck würde nicht zu voll mit Menschen werden.

Es gab definitiv den Plan, die Rettungsboote der Titanic vom Gangwayluk aus weiter zu beladen – die Anweisungen an die Rettungsboote belegen das. Und auch Lightoller, der aussagte, den Bootsmann mit ein paar Männern zum Öffnen des Gangwayluks geschickt zu haben. Allerdings kamen diese Männer nie wieder zurück. Der Bootsmann gehört zu den Opfern der Titanic. – Offen bleibt allerdings, ob der Plan, die Rettungsboote von den Gangwayluks aus weiter zu beladen, unter Deck ebenfalls kommuniziert wurde, ob den Passagieren klar war, dass es einen Weg über die Gangwayluks in die Rettungsboote geben sollte. Damit bleibt auch ungeklärt, ob tatsächlich Menschen bei den Gangwayluks darauf warteten, von dort aus in die Rettungsboote zu steigen.

An der Backbordseite erhielten die Boote 2 und 4, die zu den letzten Booten gehörten, die gefiert wurden, den Befehl, zum hinteren Gangwayluk zu rudern, und beide Boote versuchten, diesen Befehl auszuführen, mussten allerdings unverrichteter Dinge aufgeben, da nach ihren Beobachtungen kein Gangwayluk geöffnet war.

Andererseits ist aus Boot 6, das relativ früh gefiert wurde, überliefert, dass die Insassen ein Signal vom Schiff hörten, das sie für das Signal zur Rückkehr zum Schiff auffassten. Allerdings lehnte Quartermaster Hichens, der das Kommando in dem Boot hatte, ein Umdrehen ab. Offen bleibt allerdings auch, ob den Insassen von Boot 6 zu dem Zeitpunkt bereits klar war, dass die Titanic untergehen würde. Denn zu dem Zeitpunkt, an dem Boot 6 gefiert wurde, glaubten viele Passagiere noch, dass sie nach einigen Stunden im Boot wieder auf die Titanic zurückkehren würden. Unklar bleibt aus heutiger Perspektive, was bei dieser Erwartungshaltung der Grund für das Einbooten der Passagiere gewesen sein könnte – außer vielleicht, dass man glaubte, dass der Kapitän insbesondere die Frauen, denen man nachsagte, dass sie hysterisch werden, während der Reparaturarbeiten aus dem Weg haben wollte.

Die hinteren Rettungsboote, Boote 9 – 16, befanden sich am Promenadendeck der 2. Klasse. In diese Boote stiegen überwiegend Passagiere aus der 2. und auch der 3. Klasse. Es war Passagieren der 3. Klasse gelungen, Wege auf das Bootsdeck zu finden. Ein Weg führte über Außentreppen, die normalerweise mit einer Absperrung versehen waren (die allerdings in jener Nacht laut Olaus Abelseth während des Einbootens entfernt wurde), auf das B-Deck in die 2. Klasse und von dort über das hintere Treppenhaus auf das Bootsdeck. Es gab keinen Zugang aus der 2. Klasse zum A-Deck, das exklusiv den Passagieren der 1. Klasse vorbehalten war. Allerdings wurden die Boote 11, 13 und 15 vom A-Deck aus beladen. So sollte den Passagieren der Einstieg erleichtert werden. War das also wieder eine Bevorzugung der 1. Klasse? – Nein, denn irgendjemand hatte achtern Leitern aufgestellt, über die man vom B-Deck auf das A-Deck gelangen konnte. Und damit konnten auch die Passagiere aus der 2. und 3. Klasse die Boote erreichen, die vom A-Deck aus gefiert wurden. Inwieweit das Beladen vom A-Deck aus in einem Evakuierungsplan geplant war oder einem spontanen Entschluss folgte, lässt sich mit der bekannten Quellenlage nicht nachvollziehen.

Eine Lösung für die eigentlich unlösbare Aufgabe

1178 Plätze für 2208 Menschen – wie eingangs festgestellt, kann diese Aufgabe nicht dso gelöst werden, dass jeder einen Platz erhält. Aber es gab den Faktor X: Es musste nur gelingen, weitere Rettungsboote zur Titanic zu schaffen. Weitere Rettungsboote? Wie soll das gehen? So schnell können doch keine Boote gebaut werden – und die Titanic hatte doch bestimmt nicht genug Holz an Bord, aus dem weitere Boote hätten „geschnitzt“ werden können.

Aber was wäre gewesen, wenn ein anderes Schiff die Boote gebracht hätte? – Über Funk hatte man den Notruf abgesetzt, und es machten sich einige Schiffe auf den Weg zur Titanic. Wenn auch nur eines davon vor Ort wäre, würde die Situation sich gleich ganz anders darstellen:

  • Die Rettungsboote der Titanic hätten ein Ziel, das sie ansteuern können. Sie könnten dort ihre Insassen absetzen und zur Titanic zurückkehren, um weitere Menschen aufzunehmen. Das würde die verfügbaren Plätze für die Menschen auf der Titanic deutlich erhöhen!
  • Das andere Schiff hatte eigene Rettungsboote, die zum Einsatz gebracht werden konnten. Auch diese Boote könnten mit Menschen von der Titanicbesetzt werden.

Mit einem anderen Schiff bei der Titanic wäre der Mangel kein Mangel mehr – sofern die Titanic lange genug schwimmt, bis alle auf ihr von Bord gelangt sind.

Dass dieser Gedankengang auch 1912 bereits vorhanden war, wird an zwei Punkten deutlich:

  • Die Schiffe, die sich auf den Weg zur Titanicmachten, bereiteten alle ihre Rettungsboote vor, damit sie am Unglücksort direkt zum Einsatz gebracht werden konnten.
  • Die Boote 8 und 6 erhielten vom Kapitän den Befehl, zu dem anderen Schiff zu rudern, dessen Licht am Horizont zu sehen war, die Insassen dort abzusetzen und dann zurückzukehren, um weitere Menschen aufzunehmen.

Allerdings gab es den Faktor X in der Unglücksnacht nicht. Kein anderes Schiff kam rechtzeitig genug, um noch mit eigenen Booten bei der Evakuierung zu helfen. Und das Licht am Horizont, das von vielen für ein Schiff gehalten wurde, blieb für die Boote 6 und 8 unerreichbar.

Ein versteckter Mangel

Mit jedem Rettungsboot, das die Titanic verlief, gingen auch ausgebildete Seemänner von Bord, die bei den verbleibenden Booten und Aufgaben fehlten. Auf der Backbordseite wurde frühzeitig auf die Hilfe von Passagieren gesetzt. Auf der Steuerbordseite wurde es Männern generell erlaubt, in die Boote zu steigen, wenn noch Platz war und keine Frauen und Kinder mehr beim Boot waren oder einsteigen wollten.

Dieses unterschiedliche Vorgehen hatte Auswirkungen: In den Booten der Backbordseite (die Boote mit den geraden Nummern) waren es häufig Frauen, die ruderten, weil Männer fehlten. In den Booten der Steuerbordseite waren zwar ausreichend Männer, um die Boote zu bemannen, aber nicht alle konnten rudern. – Dieses Phänomen, dass Männer in den Booten waren, die nicht rudern konnten, traf übrigens auch noch auf einige der wenigen Männer zu, die in Booten der Backbordseite von Bord gegangen waren.

Der gesamte Evakuierungsverlauf der Titanic zeigt allerdings auch, dass mehr Rettungsboote der Titanic nur dann etwas genützt hätten, wenn es auch mehr Seemänner an Bord gegeben hätte – oder mehr Besatzungsmitglieder, die mit der Handhabung von Rettungsbooten vertraut waren.

Und wäre die Carpathia nicht bereits schon so früh am Unglücksort eingetroffen, sondern wäre, wie es an Bord und in einigen Booten hieß, die Olympic  erst am Nachmittag gekommen, wäre der Mangel an Seeleuten und die ungleichmäßige Besetzung der Boote sowie die nicht immer vorhandene Verpflegung in den Booten voll zum Tragen gekommen. Mit der Morgendämmerung setzte auch eine Brise ein, die wiederum dafür sorgte, dass Seegang aufkam. Die Vermutung liegt nahe, dass die Boote bei Tageslicht versucht hätten, zusammen zu kommen bzw. zu bleiben und vermutlich hätte man dann in den Booten Umbesetzungen vorgenommen, um für eine ausgewogenere Besetzung zu sorgen. Vielleicht hätten auch einige Seeleute in den Rettungsbooten gewusst, wo die Nahrungsmittel und das Wasser verstaut waren. Doch da die Carpathia bereits am frühen Morgen eintraf, waren diese Maßnahmen nicht mehr erforderlich.

Inwieweit es Evakuierungspläne für die Titanic gab, ist auf Basis der verwendeten Quellen nicht nachvollziehbar. Gesichert ist allerdings, dass eine Bootsliste für die Besatzung erstellt und ausgehangen wurde – allerdings hat nicht jedes Besatzungsmitglied darauf geschaut und sich informiert, welchem Boot es zugeteilt war. Allerdings hätten auch die Boote bereits mit der Besatzung alleine bereits gut gefüllt werden können – je nach Zählweise 899 oder 891 Personen für 1178 Plätze …

Ob es weitergehende Pläne für eine mögliche Evakuierung der Titanic gab oder ob in der Unglücksnacht mehr oder weniger spontan vorgegangen wurde, muss offen bleiben. Immerhin gibt es Indizien dafür, dass die Weiterbeladung einiger Boote durch die Gangwayluks zumindest beabsichtigt war, doch dieser Plan vermutlich wegen Brüchen in der Befehlskette nicht zur Ausführung kam.

Hätte die Titanic sich so lange schwimmend gehalten, bis ein anderes Schiff vor Ort war, hätten die Rettungsboote mehrfach verwendet werden können – und die Boote des anderen Schiffes zusätzlich genutzt, wodurch es mehr verfügbaren Platz für die Menschen auf der Titanic gegeben hätte.

Mehr Rettungsboote für die Titanic hätten nur dann einen größeren Nutzen gehabt, wenn auch entsprechendes Personal an Bord vorgehalten worden wäre. Schon für die vorhandenen Rettungsboote gab es zu wenige Seemänner. Aber vermutlich hat man sich vor dem Untergang der Titanic auch nicht vorstellen können, dass ein so großes Schiff, das zudem mit Funk ausgestattet war, vollständig untergeht, ehe wenigstens ein weiteres Schiff vor Ort ist.

[1] Behe (2018)
[2] Halpern (2011), Fitch et al. (2012); in deutscher Sprache siehe Navigator Nr. 85, S. 18 ff, „Wer hat an der Uhr gedreht?“
[3] zur Notrufposition siehe Navigator Nr. 87, S. 8 ff., „Der letzte Tag“

 

Quellen:

Bäbler, Günter (2017), Guide to the Crew of Titanic, Stroud (Gloucestershire): The History Press
Beesley, Lawrence / Rolf-Werner Baak (2012), Das 1:1000000 Risiko. 100 Jahre Titanic, Norderstedt: Books on Demand
Behe, George (2011/1), On Board RMS Titanic. Memories of the Maiden Voyage, ohne Ort: Lulu
Behe, George (2015), Voices from the Carpathia. Rescuing RMS Titanic, Stroud (Gloucestershire): The History Press
Behe , George (2018), „Als die Titanic ‚unsinkbar‘ wurde“, Deutscher Titanic-Verein von 1997 e. V., Der Navigator Nr. 83, S. 12 ff.
Beveridge, Bruce / Scott Andrews / Steve Hall / Daniel Klistorner (2009), Titanic. The Ship Magnificent, Volume Two. Interior Design & Fitting Out, 3. Auflage, Stroud (Gloucestershire): The History Press
Fitch, Tad / J. Kent Layton / Bill Wormstedt (2012), On a Sea of Glass. The Life & Loss of the RMS Titanic, Stroud (Gloucestershire): Amberley Publishing
Halpern, Samuel (2011), Report into the Loss of the SS Titanic. A Centennial Reappraisal, Stroud (Gloucestershire): The History Press
Pike, Dag (2017), Taming the Atlantic. The History of Man’s Battle with the World’s toughest Ocean, Barnsley: Pen & Sword

Internet:

www.titanicinquiry.org – die Protokolle der Untersuchungsausschüsse in den USA und Großbritannien online.